Zivilrecht im Nationalsozialismus

Das, im Vergleich betrachtet, geringste Ausmaß an Entdifferenzierung ist im Zivilrecht zu beobachten. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) blieb – ausgenommen das Ehe- sowie das Erbrecht – von den Nationalsozialisten zunächst weitestgehend unangetastet, was auch mit den darin vorzufindenden Generalklauseln zu tun hatte: Formulierungen wie etwa jene des § 242 BGB („Leistung nach Treu und Glauben“) (vgl. BGB o. J.: 122 / § 242), welche bewusst offen gehalten waren und erst durch die Rechtsprechung mit konkreter Bedeutung gefüllt werden mussten, ermöglichten es auch in diesem Fall, die bestehende „Interpretationslücke“ politisch, d. h. NS-ideologisch auszufüllen (vgl. Schwarz 2012) – ähnlich der Formulierung des „gesunden Volksempfindens“ im Strafrecht. Es bestand hier so gesehen schon vorher (bzw.: es besteht noch immer) über derartige Generalklauseln eine gewisse Offenheit des Rechtssystems für Interventionen von außen, die anderen, nicht-rechtlichen Leitdifferenzen folgen, und auch in diesem Fall dürfte der über Kontextsteuerung etablierte und selbst in dieser Weise steuernde nationalsozialistische Grundkonsens sein Übriges getan haben, damit der richterliche Ermessensspielraum in derlei Fällen auf möglichst „nationalsozialistische Weise“ genutzt wurde. Gleichwohl arbeitete die Akademie für Deutsches Recht ab 1939 über mehrere Jahre hinweg relativ stringent daran, das BGB langfristig abzuschaffen und durch ein NS-ideologisch (anstatt durch Römisches Recht und liberale Rechtsdogmen) geprägtes „Volksgesetzbuch“ (VGB) zu ersetzen (vgl. Repnow 2013). Die Arbeit daran wurde jedoch kriegsbedingt im Jahr 1944 vorzeitig abgebrochen; das VGB wurde nie fertiggestellt und kam über das Entwurfsstadium nicht hinaus (vgl. ebd.: 211; 213).

Zum Ausdruck kommt mit dem Projekt jedoch abermals eine weitere „Front“ der voranschreitenden politisierenden Entdifferenzierung des Rechts, wie sie zuvor schon im Parteiprogramm der NSDAP abgesteckt worden war, welches in Punkt 19 einen „Ersatz für das der materialistischen Weltanschauung dienende römische Recht durch ein deutsches Gemeinrecht“ (zitiert nach Repnow 2013: 214, Fn. 19) forderte. Im „totalen Staat“, in der vollends politisierten Volksgemeinschaft der Nationalsozialisten war das Konzept eines „Privatrechts“ oder eines „Bürgerlichen Rechts“ ein automatischer Fremdkörper, der als eine Art Störfaktor gelten musste – man konnte ihn dank der Generalklauseln (s. o.) zwar eine gewisse Zeit lang tolerieren (man musste es sogar, allein um die Industrie nicht inmitten der Kriegsvorbereitungen zwischen 1933 und 1939 zu verunsichern und sie nicht als Verbündete zu verlieren), aber langfristig galt es aus der NS-Perspektive, es durch ein kollektivistisch-politisiertes, nach Freund und Feind unterscheidendes VGB zu ersetzen. Nicht zuletzt das geplante Buch 1 des VGB, betitelt mit „Der Volksgenosse“ (vgl. ebd.: 216), sollte hier die politische Freund-Feind-Unterscheidung ins neue „Volksrecht“ einfügen, bekräftigt durch die einzelnen Grundregeln (GR), die kollektivistische Akzente setzten. So postulierte GR 19, dass das Recht im Dienste der deutschen Volksgemeinschaft stehe, nachdem GR 1 bereits klargestellt hatte, dass das oberste Gesetz das Wohl des deutschen Volkes sei (vgl. ebd.: 219): „Zudem soll das VGB nach GR 20 die nationalsozialistische Weltanschauung umsetzen“ (Repnow 2013: 219), was nochmal nachdrücklich den explizit politischen Anspruch des Entwurfes aufzeigt. Dabei wurde auch der VGB-Entwurf inspiriert durch das konkrete Ordnungsdenken Carl Schmitts (vgl. ebd.: 217), was abermals dessen beträchtlichen Einfluss auf die NS-Rechtsdogmatik nicht nur im staats- und verwaltungsrechtlichen, sondern eben auch im zivilrechtlichen Bereich vor Augen führt. Auch das VGB nahm zugleich Bezug auf das „gesunde Volksempfinden“ (vgl. ebd.: 218).

Das VGB ist ein Stück „programmatisch geplante, aber nie verwirklichte Entdifferenzierung“. Seine Geschichte zeigt auch auf, dass trotz aller Verschärfung und Radikalisierung der entdifferenzierenden Prozesse im Laufe und gegen Ende des Krieges im strafrechtlichen Bereich ein gewisses Ausmaß an funktionaler Differenzierung in Form des Weiterbestehens des BGB bzw. des ursprünglich liberalen, römischen Bürgerlichen Rechts scheinbar als unausweichlich erachtet wurde. Dies mag anfangs, wie erwähnt, mit der Intention, die Wirtschaft nicht zu verunsichern in einem Zusammenhang gestanden haben. Das vorzeitige Abbrechen des VGB-Projektes im Jahre 1944 dürfte aber letztlich rein praktische Gründe gehabt haben – insoweit, als dass zu jener Zeit schlicht keine personellen und organisationalen Kapazitäten mehr bestanden, ein derart umfassendes, rechtlich-umwälzendes Vorhaben weiterzuverfolgen und zu bearbeiten. Dass das Vorhaben aber überhaupt bestand, demonstriert jedoch nochmal klar, dass die NS-Programmatik der politisierenden Entdifferenzierung gegenüber dem Recht jedenfalls langfristig in keinem Punkt haltzumachen gedachte: „Im Dritten Reich wurde (mittelfristig) eine dienende Funktion des Rechts gegenüber dem Staat und seiner Ideologie bzw. gegenüber der Partei angestrebt“ (Schröder 2005: 95f.).



Literatur

BGB (o. J.). Bürgerliches Gesetzbuch. Köln: Naumann & Göbel.

Repnow, Robin (2013). Das Projekt eines NS-Volksgesetzbuchs und das ZGB der DDR – Ein Vergleich. In: StudZR, 2/2013. S. 211-229.

Schröder, Rainer (2005). Steuerung der Wirtschaft durch Rechtsauslegung. In: In: Dieter Gosewinkel (Hrsg.), Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur. Frankfurt a. M.: Klostermann. S. 91-106. 
 
Schwarz, Andreas Bertalan (2012). Das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch und der Nationalsozialismus. In: Journal on European History of Law, Nr. 1 / 2012. S. 52-57.

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