Strafrecht im Nationalsozialismus

Eine wesentliche Etappe der funktionalen Entdifferenzierung im Strafrecht – zu dem sich schon im NSDAP-Parteiprogramm aus dem Jahr 1922 die Forderung finden lässt, es nach biologisch-rassischen Gesichtspunkten (mit anderen Worten: im Sinne einer politischen Freund-Feind-Unterscheidung) zu gestalten (vgl. Staudinger 1999: 113f.) und deren wesentlichster Vordenker ein weiterer Vertreter der Kieler Schule, nämlich der zeitweilige Rektor der Universität Kiel, Georg Dahm, war – zeigte sich im „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“, kurz Gewohnheitsverbrechergesetz, vom 24. November 1933 (vgl. Müller 1997; Hartl 2000: 278-282). Das Gesetz verschob den strafrechtlichen Fokus weg vom Tat- hin zum Täterstrafrecht, wobei bei der Sanktionierung von Verbrechen nicht länger die Straftat selbst als primäres Kriterium herangezogen wurde, sondern die Person des Straftäters selbst und deren Gefährdungspotenzial für die Allgemeinheit. Freilich kann das Gesetz nicht als Ganzes als Schritt zur Entdifferenzierung gewertet werden: Grundgedanken dessen finden sich noch heute im modernen Strafrecht der Bundesrepublik wieder. In ihm finden sich allerdings entscheidende Akzentsetzungen, die durch die NS-Rassenideologie begründet waren.

Unter anderem auf den Staatssekretär im Reichsjustizministerium und späteren Präsidenten des Volksgerichtshofes Roland Freisler geht zugleich die Zielstellung eines nationalsozialistischen Willensstrafrechts zurück, welches nicht mehr die Tat, sondern der Wille des Täters sanktioniert wird (vgl. Freisler 1938: 1253). Nun ist zwar auch dies noch nicht zwingend und automatisch ein Indikator für funktionale Entdifferenzierung zwischen Politik und Recht, allerdings zeigt sich eben gerade in der näheren Ausgestaltung jener großangelegten strafrechtlichen Reformpläne der Nationalsozialisten deutlich eine klare Verbindung jenes (angestrebten, aber nie ganz vollendeten) Paradigmenwechsels im Strafrecht mit dem zugrundeliegenden gesellschaftsstrukturellen Wandel. Freisler tat sich bereits frühzeitig mit dem Entwurf eines nationalsozialistischen Strafrechtskonzepts hervor, mit dem er das bisherige Strafrecht als materialistisch und individualistisch ablehnte, welchem er damit das Ziel eines „Volksstrafrechts“ und die für ihn zu priorisierenden Rechtsgüter Volk, Rasse und deren Geschichte entgegensetzte (vgl. Staudinger 1999: 114).

Freislers Ideen beinhalteten eine erkennbar kollektivistische Schwerpunktsetzung und wurden im Jahr 1935 durch einen NSDAP-eigenen Strafrechtsausschuss fortgeführt und in nicht unwesentlichen Teilen später auch umgesetzt, etwa in Form der Beschneidung der Rechte des Angeklagten im Strafprozess, der Möglichkeit der Rechtsschöpfung für Gerichte und der Aufhebung des Rückwirkungsverbots, obwohl ein wirklich einheitliches NS-Strafrecht nach dem Muster der theoretischen Vorarbeit u. a. Freislers und Hans Franks nie ganz umgesetzt wurde (vgl. ebd.: 115f.). Freisler ging dabei aus von der Einheit von Gesetzgeber, Verwaltung und Rechtsprechung, ebenso wie auch vom Führerprinzip; das NS-Strafrecht müsse sich an den Bedürfnissen des von Hitler geführten Staatswesens orientieren (vgl. ebd.: 115). Das bedeutete zugleich auch, dass „es im nationalsozialistischen Strafrecht kein formelles Recht oder Unrecht geben kann, sondern nur völkisches Gerechtigkeitsempfinden. Dieses ist das Maß aller Handlungen“ (Staudinger 1999: 115). Das Maß aller (rechtlichen) Handlungen (Kommunikationen) war demnach aus NS-Sicht nicht mehr die binäre Codierung Recht / Unrecht, sondern die Bezugnahme auf die völkisch-politische Unterscheidung, die da hieß: Was der Volksgemeinschaft dienlich ist, ist rechtens; was es nicht ist, ist Unrecht. In der NS-Strafrechtstheorie war demnach das Primat des Politischen klar formuliert und fassbar, und auch, wenn es zu einem einheitlichen NS-Strafrecht (wohl eher aus Zeitgründen und vor dem Hintergrund anderer Prioritäten spätestens ab Kriegsbeginn) nicht kam, so gelang doch immerhin die Durchbrechung der Systemgrenze des Rechts im Zuge einer sehr weitgehenden Politisierung des Strafrechts.

Der ebenfalls der Kieler Schule zuzurechnende NS-Strafrechtler Friedrich Schaffstein postulierte eine Auffassung vom Verbrechen als Pflichtverletzung gegenüber der Gemeinschaft (vgl. Hartl 2000: 106-111), womit ein kollektivistisches Element in die Strafrechtsdogmatik Einzug hielt, welches dem NS-Ideal der Freunde inkludierenden und Feinde exkludierenden Volksgemeinschaft entsprach. Georg Dahm wiederum brachte den Verratsgedanken in die zunehmend politisierte Strafrechtslehre ein, der zur Unterscheidung der Begriffe bzw. Konzepte Verbrechen und Verrat führte: „Dahms Untersuchungen basierten auf der Überzeugung, daß der kriminelle Gehalt einer Straftat in der Veränderung bestehe, welche ‚die Art und der innere Zusammenhalt‘ der völkischen Gemeinschaft durch das Verbrechen zu erleiden hätte (…). Als neuer Unrechtstypus war der Verrat für solche Delikte vorgesehen, durch die ‚die Gemeinschaft zerstört und die Ordnung aufgelöst‘ wird“ (Hartl 2000: 111). Darunter fielen vor allem Hoch- und Landesverrat bzw. Straftaten, die nach der NS-Rechtsauffassung eine besondere Treulosigkeit und Ehrlosigkeit, also eine entsprechende, grundlegende Gesinnung des Täters widerspiegelten, was in sogenannten „Ehrenstrafen“ münden sollte (vgl. ebd.: 111f.). Das („normale“) Verbrechen hingegen zeichnete sich aus durch „die Verletzung einzelner bestimmter Ordnungen (…). Der Verbrecher sollte Mitglied der Gemeinschaft bleiben, die Bestrafung seiner Wiedereingliederung dienen“ (ebd.: 113), was beim „Verräter“ bzw. der Ehrenstrafe für diesen anders aussah, da bei diesem die Gesinnung bzw. der Willen des Täters stärker im Mittelpunkt stand als die Tathandlung selbst, anders als beim gewöhnlichen Verbrecher der Fall (vgl. ebd.: 112f.). Das nationalsozialistische Strafrecht müsse, so die NS-Leitsätze, auf der völkischen Treuepflicht beruhen – Straftäter, die diese Pflicht verletzten, seien nicht nur Verbrecher, sondern auch „Verräter an der Volksgemeinschaft“ (vgl. ebd.: 113f.).

Dahm allerdings überarbeitete später seine oben skizzierten Auffassungen dahingehend, dass die ursprüngliche Unterscheidung von Verbrecher einerseits und Verräter andererseits schließlich aufgelöst wurde und beide Begriffe bzw. Konzepte verschwammen. Auch innerhalb der Strafrechtsdogmatik trat somit in gewisser Weise eine Radikalisierung ein: Dahm zufolge war „nahezu jedem Verbrechen ein bestimmtes Verratselement eigentümlich (…). Der Typus des Verräters erschien nun ‚als Urbild des Verbrechers überhaupt‘“ (ebd.: 114). Abgesehen von Fahrlässigkeitsdelikten und Straftaten wie etwa leichten Körperverletzungsdelikten diagnostizierte Dahm schließlich für jedes Verbrechen in unterschiedlichem Ausmaß einen Treuebruch verräterischen Charakters (vgl. ebd.: 114). Die Folge all dessen bestand darin, dass letztlich die Persönlichkeit des Täters bei der Strafzumessung im Mittelpunkt stand, nicht mehr die Tat selbst.

Im Aufbau und sodann in der Weiterentwicklung von Dahms strafrechtstheoretischer Arbeit wird die sie begleitende und zugleich fördernde, hier im Mittelpunkt der soziologischen Beobachtung stehende gesellschaftsstrukturelle Entwicklung des Dritten Reiches in geradezu symbolischer Weise deutlich. In der zunächst vorgenommenen Unterscheidung, die dem Begriffspaar Verbrechen / Verrat innewohnt, welche in ersterem gewissermaßen die „normale“ Kriminalität sieht und in letzterem den politischen (und daher noch verwerflicheren) Treuebruch gegenüber der Volksgemeinschaft, wird letzten Endes wieder einmal das Spannungsfeld aus Differenzierung und Entdifferenzierung von Politik und Recht sichtbar, welches insbesondere die ersten Jahre des Dritten Reiches auszeichnete. Im Falle der strafrechtlichen Routine – also: gewöhnlichen Straftaten bzw. Verbrechen – blieb die funktionale Differenzierung zwischen beiden Systemen aufrecht: Das Rechtssystem operierte weiter in der gewöhnlichen Weise, da eine politische Intervention schlicht noch nicht als notwendig empfunden wurde.

Anders sah es hingegen in jenen Belangen aus, die politische Fragen berührten, also Landes- bzw. Hochverrat und „Verrat an der Volksgemeinschaft“: Hier griff die politische Funktionslogik – wie von Dahm vorausgedacht – in das Rechtssystem ein, ganz im Sinne von Schmitts Ausnahmezustand. Der gewöhnliche Verbrecher war zu bestrafen, um ihn am Ende wieder in die Gemeinschaft eingliedern („resozialisieren“) zu können – er war gewissermaßen ein „auf Abwege geratener Freund“, der wieder an seine Rolle erinnert werden musste. Der Verräter hingegen war der Feind; für ihn galten insofern grundlegend andere strafrechtliche und rechtsdogmatische Maßstäbe. Was in welcher Form Recht bzw. Unrecht war und wie staatlicherseits jeweils darauf reagiert wurde, leitete sich hier also direkt aus der dominanten politischen Unterscheidung ab. Auch die aufrechterhaltene Differenzierung im Falle des „normalen Verbrechers“ war allerdings insofern auch nur eine Differenzierung „von Staates Gnaden“, die bei Bedarf relativ schnell aufgelöst werden konnte.

Und eben das trat später auch ein: In Dahms eigenem Umschwenken bzw. seiner rechtstheoretischen Radikalisierung zeigt sich symbolhaft die voranschreitende Entdifferenzierung auf sozialstruktureller Ebene. Irgendwann war schließlich auch der gewöhnliche Verbrecher ein (im Kern politischer) Verräter, da Dahm zufolge in so gut wie jedem Kriminellen irgendwo ein „verräterischer Kern“ zu finden war (s. o.). Mit der Entdifferenzierung der Unterscheidung von Verbrecher und Verräter erfolgte auch eine weitere Entdifferenzierung zwischen politischem System und Rechtssystem, da dadurch schließlich so gut wie jede Straftat der Definitionshoheit einer politischen Leitunterscheidung unterworfen wurde. Der Ausnahmezustand weitete sich aus; die Routine der systemischen Differenzierung wurde schrittweise, wohl auch im Zuge der weiteren Etablierung des NS-Regimes und der voranschreitenden Verdrängung der anfänglich noch beteiligten rechtskonservativ-bürgerlichen Kräfte um Franz von Papen und andere, zurückgedrängt. Fast jede Straftat hatte nun einen mindestens implizit politischen Charakter; jeder Verbrecher war nun letztlich nicht primär ein Rechtssubjekt, sondern ein Feind, der nicht durch Bestrafung resozialisiert und dadurch inkludiert, sondern einfach exkludiert werden musste.

Die gesetzliche Durchsetzung derartiger neuer Dogmatiken des Strafrechts konnte nur durch etwas erfolgen, was man heute als framing bezeichnen würde: Die Rahmung und Ausfüllung bestimmter, teils neuer Begriffe, welche selbst wiederum einen hinreichenden Spielraum zur konkreten politischen Interpretation im Einzelfall boten. Bernd Rüthers sieht in dem dieser „Rechtstechnologie“ zugrundeliegenden konkreten Ordnungsdenken nach Carl Schmitt eine „orakelhafte Vieldeutigkeit“ (Rüthers 1988: 70). Ein Beispiel für eben jene nationalsozialistische Sprachpolitik war die stetig wiederkehrende Verwendung des Wesens-Begriffes im Rahmen von rechtswissenschaftlichen Publikationen jener Zeit: Immer wieder wurde in jenen Schriften auf das „Wesen“ eines bestimmten Lebensbereiches rekurriert – das Wesen der Arbeit, das Wesen der Betriebsgemeinschaft, das Wesen der engeren Gemeinschaften wie etwa Familie, Betriebsgemeinschaft, Arbeitsdienst, Berufsstände und Gliederungen der nationalsozialistischen Bewegung; das Wesen der Dinge und der Ordnungen; auf die wesensgemäße Haltung der Menschen etc. (vgl. Rüthers 1988: 71f.). Was dann das „Wesen“ bzw. „wesensgemäß“ genau war, konnte in der Folge politisch definiert und mit konkreter, der nationalsozialistischen Führung genehmer Bedeutung gefüllt werden. Dieses Phänomen allerdings, so muss einschränkend hinzugefügt werden, ist kein Alleinstellungsmerkmal des Nationalsozialismus: Terminologien wie diese „kennzeichnen mit ihrer Weite, Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit gerade die Unbestimmtheit und Wandelbarkeit der umschriebenen normativen Gehalte. Verwendet sie der Gesetzgeber, so sind sie seit langem zutreffend als ‚Delegationsnormen‘ erkannt, in denen die inhaltliche Normsetzungsbefugnis auf die Gerichte übertragen wird“ (ebd.: 72). Im Falle des Nationalsozialismus erfolgte freilich nur in höchst eingeschränktem Maße eine Übertragung auf die Gerichte – vielmehr wurde der damit eintretende Interpretationsspielraum durch die politische Funktionslogik ausgefüllt, die somit eine Rechtsprechung nach Maßgabe der Freund-Feind-Unterscheidung vorsah.

Greifbarer wird diese Strategie der „subtilen Entdifferenzierung“ durch das politische System, wenn man den im Strafrecht des Dritten Reiches hoch bedeutsamen Begriff des gesunden Volksempfindens genauer unter die Lupe nimmt. Der entscheidende Einschnitt kam hier mit dem „Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches“ vom 28. Juni 1935 (vgl. Staudinger 1999: 109), welches in § 2 folgende Regelung vorsah, die nichts weniger bedeutete als eine massive Umwälzung des deutschen Strafrechts: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft“ (zitiert nach Epping 2010: 419). Das Analogverbot im Strafrecht, welches heute, wenn es zu Lasten des Angeklagten ginge, in der Bundesrepublik primär infolge von Artikel 103 des Grundgesetzes gilt, damals bis zu der Änderung Bestandteil des § 2 RStGB war und sich in dem Rechtsgrundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ ausdrückt (vgl. Hartl 2000: 297), wurde damit formal und faktisch ausgesetzt (vgl. Staudinger 1999: 109): Die Formulierung des „gesunden Volksempfindens“ und, nicht zuletzt, des „Grundgedankens eines Strafgesetzes“ gewährte von nun an einen beträchtlichen Interpretationsspielraum, welcher in der Folge ebenfalls politisch ausgefüllt werden konnte, worauf auch schon die Bezugnahme auf eine explizit politische Einheit im Rahmen des Gesetzes, nämlich das „Volk“, klar abzielte. Auch der Begriff des „Grundgedankens eines Gesetzes“ ist freilich in höchstem Maße interpretationsoffen und daher für die politische Instrumentalisierung anfällig. Dieser Einschnitt öffnete faktisch, wenn auch noch, typisch für diese Anfangsphase der Entdifferenzierung zwischen Politik und Recht, durch ein Änderungsgesetz formalisiert, das Tor für die Politisierung auch des Strafrechts, die in den Folgejahren weiter voranschritt.

Allerdings: Auch der richterliche Ermessensspielraum wurde hiermit grundsätzlich ausgeweitet, denn nun oblag es zunächst einmal der Rechtsprechung, die Begriffe des „gesunden Volksempfindens“ und des „Grundgedankens eines Strafgesetzes“ im konkreten Falle mit Leben zu füllen. Karl Peters (1938) schrieb hier, ähnlich codierend, vom „Volksgeist“ und vom „Denken und Fühlen des Volkes“ (Peters 1938: 343), auf welches sich richterliche Entscheidungen nun berufen könnten. Wurde durch diesen somit zunächst vermeintlich gestärkten Ermessensspielraum der Rechtsprechung, also des Zentrums des Rechtssystems, die Autonomie des Rechtssystems gegenüber der Politik nicht eigentlich eher gestärkt? Diese Schlussfolgerung würde ignorieren, dass die operative Geschlossenheit des Rechtssystems sich eigentlich aus der Autopoiesis – also auch der Selbstbezüglichkeit – des Rechts ergibt. Diese kann aber nur zustande kommen, wenn Recht sich auf Recht, also auf bestimmte, nicht-diffuse, eindeutige und definierte Rechtsgrundsätze bezieht, wie es durch das Analogieverbot gewährleistet ist. Ab dem Moment, ab dem dieses aufgehoben und der richterliche Ermessensspielraum dergestalt gestärkt wird, wird gewissermaßen die Tür für Interventionen aus anderen gesellschaftlichen Teilsystemen geöffnet. Damit ist aber freilich noch nicht gesagt, dass hier das politische System zum Zuge kommen muss – man stelle sich hier beispielsweise etwa eine Regionalgesellschaft vor, in der Korruption und ökonomische Prioritäten die Justiz beherrschen. In einem solchen Kontext wäre eine solche Neuregelung letztlich eher ein begünstigendes Element für eine Rechtsprechung, die Urteile im Sinne derjenigen fällt, die am besten bezahlen. Im Dritten Reich jedoch füllte der nationalsozialistische Grundkonsens diese Lücke; ein Vorgang, der durch die Bezugnahme auf die explizit politische Vokabel des „Volkes“ noch gestärkt wurde. Am Ende war dies der Vorgang, der schließlich zur explizit politisierenden (und nicht z. B. ökonomisierenden) Entdifferenzierung des Rechts führte.

Auch die Strafrechtstheorie als zuständige reflexionstheoretische Sphäre des Rechts trug hierzu ihren Teil bei: So schrieb etwa Heinrich Lange (1933), dass sich durch die Strafrechtsänderung für den Richter die „hohe Aufgabe [ergibt], das Recht nicht nur verstandesmäßig zu erfassen und anzuwenden, sondern aus der Gemeinschaftsverbundenheit heraus das deutsche Recht zu erfühlen und zu gestalten“ (Lange 1933: 2859). Somit ergab sich begleitend zu der Änderungsgesetzgebung eine neue, rechtswissenschaftliche Strafrechtsdogmatik, die dem Richter mindestens in andeutendem Duktus „nahelegte“, wie er seinen Ermessensspielraum zu nutzen habe. Die Reflexionstheorie war früh politisiert (auch hier wird man wieder das Wirken Carl Schmitts sowie der Kieler Schule als einen entscheidenden Faktor betrachten müssen) und übernahm die Aufgabe, gewissermaßen parallel zu der Strafrechtsänderung, die die „System-Tore“ öffnete, mit dem ausgestreckten Finger in jene Richtung zu zeigen, aus der man die Intervention in das Recht willkommen heißen würde – in die Richtung des politischen Systems.

Weitere Wegmarken der Strafgesetzgebung im Nationalsozialismus waren die „Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz“, kurz Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) vom 17. August 1938 sowie die „Verordnung gegen Volksschädlinge“, kurz Volksschädlingsverordnung (VVO), vom 5. September 1939 und die „Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten“, kurz Polenstrafrechtsverordnung, vom 4. Dezember 1941. Über die KSSVO urteilt Ingo Müller (1987), diese sei ein buchstäblich universelles Mittel zur Unterdrückung oppositioneller Bestrebungen gewesen (vgl. ebd.: 151); diese sowie die zeitgleich und gemeinsam mit ihr beschlossene Kriegsstrafverfahrensordnung (KStVO), auf die wir im nächsten Unterabschnitt neben einigen anderen, sich explizit auf die Rechtsprechung beziehenden Rechtsnormen nochmals genauer eingehen werden, hätten den Militärjuristen quasi „unbegrenzte Möglichkeiten [gegeben], gegen ‚innere und äußere Feinde‘ vorzugehen“ (Baumann / Koch 2008: 145).

Die Schaffung eines Sonderstrafrechts für den Kriegszustand fügte sich nahtlos ein in eine allerdings schon Jahre vorher, nämlich mit der Schaffung von Sondergerichten begonnene Tradition der nationalsozialistischen Rechtspolitik, welche wir ebenfalls noch im anschließenden Unterabschnitt thematisieren werden. In jedem Falle wurde hiermit aber nochmal ein weiterer Schritt der Politisierung des Strafrechts vollzogen: Die oben zitierte Formulierung von Baumann und Koch (2008) macht dies bereits deutlich: Es ging eben im direkten zeitlichen Vorfeld des Krieges nicht mehr nur um gewöhnliche Kriminelle und Verbrecher, sondern, mit Dahm gesprochen (s. o.), um „Verräter“, oder, mit Schmitt gesprochen, um „Feinde“, innere wie äußere. Die rechtliche Kategorie wurde durch eine explizit politische Kategorie ersetzt, die dem politischen Code entsprang. Berühmt-berüchtigt wurde die KSSVO in der deutschen Bevölkerung jener Zeit vor allem über den damit eingeführten Straftatbestand der „Wehrkraftzersetzung“, der als defätistisch angesehene Äußerungen unter Strafe stellte. Die Auslegung dessen und der dazugehörigen Tatbestandsmerkmale wurde in einer Weise ausgedehnt, dass mittels der KSSVO jede Äußerung, die sich gegen den Nationalsozialismus richtete, hart sanktioniert werden konnte. Dieses Sonderstrafrecht bedeutete folglich „einen weiteren wesentlichen Schritt auf dem Weg in die Totalisierung des Dritten Reiches“ (Staudinger 1999: 107) und ist in dieser historischen Rolle zugleich ein weiteres Indiz für die These, dass kriegsgesellschaftliche Dynamiken, wie sie Kruse (2015) beschrieben hat, funktionale Entdifferenzierung nochmals deutlich verstärken. Die existenzielle Bedrohungslage des Krieges verschärft die politische Freund-Feind-Unterscheidung und erhöht ihre Interventionsmöglichkeiten in andere Funktionssysteme wie eben das Recht. Nun ging es nicht mehr nur um „Verrat“, sondern um „Verrat“ in Zeiten einer existenziellen Bedrohung. Der damit aufgebaute moralische Druck erhöht die gesellschaftsstrukturell wirkende Politisierung.

Dies gilt umso mehr, als dass an der KSSVO in geradezu plastischer Weise nicht nur der Zustand, sondern auch der stetig voranschreitende Prozess der politisierenden Entdifferenzierung sichtbar wurde – nämlich durch die Ergänzungsverordnungen, mittels derer sie im Laufe der Kriegsjahre noch mehrmals weiter verschärft wurde. Die Erste Ergänzungsverordnung aus dem Jahre 1939 sah vor, dass u. a. bei strafbaren Handlungen gegen das Gebot soldatischen Mutes der regelmäßige Strafrahmen überschritten werden konnte (vgl. Reichsgesetzblatt 1939). Die Vierte Ergänzungsverordnung, im Jahr 1943 verkündet, bestimmte u. a., dass bei allen Tätern, die durch eine vorsätzliche strafbare Handlung einen schweren Nachteil für die Kriegsführung oder die Sicherheit des Reiches verschuldet haben, der regelmäßige Strafrahmen überschritten oder lebenslanges Zuchthaus oder die Todesstrafe verhängt werden kann, wenn „nach gesundem Volksempfinden“ der regelmäßige Strafrahmen nicht ausreicht (vgl. Reichsgesetzblatt 1943). Mit der Fünften Ergänzungsverordnung – aus dem Jahre 1944 – wurde diese Regelung auch auf fahrlässige Handlungen ausgedehnt, wenn diese einen besonders schweren Nachteil zur Folge hatten (vgl. Reichsgesetzblatt 1944).

Es wird mehr als deutlich, dass der voranschreitende Krieg, die in den letzten Kriegsjahren immer weiter zunehmende Zurückdrängung Deutschlands durch die Alliierten und letztlich der „totale Krieg“ der Jahre 1944 / 1945 zu einer immer weitergehenden Verschärfung des Sonderstrafrechts beigetragen haben, womit auch die politisierende Entdifferenzierung voranschritt. Auch hier war es wieder der diffuse, aber durch und durch politische Terminus des „gesunden Volksempfindens“, der Sanktionierungen bis hin zur Todesstrafe erlaubte, wenn dies dem jeweiligen Gericht politisch geboten schien. Recht rekurrierte auf Politik, unterschied nach Freund und Feind und nahm darauf basierend immer schärfere und immer radikalere Exklusionen vor. Die KSSVO kann als eines der eindringlichsten und wichtigsten Indizien für die funktionale Entdifferenzierung von Politik und Recht im Nationalsozialismus gelten – gerade auch im Zuge der oben genannten Ergänzungsverordnungen und ihrer Folgen.

Eine nicht unähnliche strafrechtliche Funktion erfüllte die VVO, die ebenfalls in der Tradition jener kriegsstrafrechtlichen Normsetzungen stand, die zu einer heftigen Verschärfung der Repressionen ab Kriegsbeginn beitrugen. Die VVO sanktionierte Straftaten im Rahmen bereits bestehender Straftatbestände, die etwa unter Ausnutzung von kriegsbedingten Situationen zustande gekommen waren, wie beispielsweise der Fliegergefahr (vgl. Hartl 2000: 309). Dabei wurde Verordnung derart weit ausgelegt, dass so gut wie alle „irgendwie“ durch kriegsbedingte Situationen erleichterten oder begünstigten Taten massiv sanktioniert wurden und die Justiz dadurch willkürlich Todesurteile verhängen konnte (vgl. ebd.: 313). Im Zuge des genuin politischen Phänomens des Krieges wurde also auch hiermit das bestehende Strafrecht nochmals weiter politisiert und mit speziellen Komponenten und Regelungen ausgestattet, die sich auf Straftaten bezogen, die eine bei der Bekämpfung des Feindes negative Auswirkungen nach sich zogen. Ihnen wurde somit also selbst ein politischer Charakter zugeschrieben. Mit dem Begriff des „Volksschädlings“, welcher sich, neben der damit auch verbundenen biologistischen Assoziation des Begriffsbestandteils „Schädling“, mit dem Volksbegriff ebenfalls auf eine politische Einheit bezieht, wurde ebenso auf eine politische Unterscheidung rekurriert. Die VVO war ein weiterer Schritt in Richtung politisierende Entdifferenzierung des Rechts.

Ähnliches galt für die Polenstrafrechtsverordnung, welche selbst offen ein Sonderrecht für Polen und Juden in den „eingegliederten Ostgebieten“ postulierte und diese mit einer deutlich geminderten Rechtsstellung ausstattete (vgl. Majer 1981: 748). Mit dieser wurden nicht nur Gewalttaten gegen Deutsche, sondern etwa auch deutschenfeindliche Äußerungen der Todesstrafe unterworfen; Staatsanwälte mussten Straftaten von Deutschen gegen Polen und Juden fortan nicht mehr verfolgen; die Bestellung von Pflichtverteidigern für Polen und Juden oblagen ab 1942 außerdem fortan dem Ermessen der Gerichte (vgl. ebd.: 771f.). In ähnlicher Weise unterwarfen die sogenannten Polen-Erlasse der NS-Führung die polnischen Zwangsarbeiter sonderrechtlichen Regelungen außerhalb der strafrechtlichen Dimension. Hierin zeigt sich nochmal eine neue Dimension der politisierenden Entdifferenzierung des Rechts: Ab der Eroberung von neuem Territorium wurde das nationalsozialistische „Feindstrafrecht“ nicht lediglich auf die dort lebenden Juden, sondern auch auf die dort einheimische Bevölkerung ausgedehnt. Die Betroffenen wurden einem explizit politischen Sonderstrafrecht unterworfen, welches die aus der Volksgemeinschaft Exkludierten anders behandelte als die in sie Inkludierten.

Das Sonderstrafrecht des Dritten Reiches, welches mit Kriegsbeginn endgültig formalisiert und mit dem voranschreitenden (und für Deutschland bald immer schlechter laufenden) Krieg immer weiter verschärft wurde, war das direkte Resultat der politischen Leitunterscheidung von Freund und Feind, indem es sich speziell auf die Negativseite des Codes bezog und die Bezugnahme auf die Positivseite dem konventionellen Strafrecht des Reichsstrafgesetzbuches überließ. Welches Strafrecht auf wen angewendet wurde, wurde nach politischer Maßgabe entschieden; hiernach richtete sich in der Folge auch die Tätigkeit sowie die Zuständigkeit der Rechtsprechung, in deren Rahmen wiederum eigene Veränderungen erfolgten – angefangen bei der Installierung des berüchtigt gewordenen Volksgerichtshofes, bis hin zu weiteren Sonder- und schließlich auch Standgerichten.

Abseits der Einführung des Sonderstrafrechts sowie der Politisierung des ordentlichen Strafrechts über die oben beschriebenen Wege darf auch nicht vergessen werden, dass auch die (weniger subtilen und vom Vorgehen her rücksichtsloseren) Maßnahmen der Verschiebung von Zuständigkeiten in den Bereich der Verwaltung bzw. speziell der politischen Polizei eine maßgebliche Rolle spielten bei der Politisierung des Strafrechts, was zugleich auch Schmitts und Forsthoffs Vorstellung vom totalen Staat nochmals wesentlich klarer entsprach (vgl. Staudinger 1999: 116f.). Während die Schaffung eines Sonderstrafrechts zunächst auf paradox anmutende Weise eine Art „funktionale Entdifferenzierung durch binnensystemische Differenzierung“ bedeutete und erst auf den zweiten Blick als Maßnahme zum totalitären Umbau des Staates ins Auge fällt, so ist die Sache bei einer Verlagerung entscheidender Kompetenzen von der Justiz hin zur politischen Polizei wesentlich eindeutiger und offensichtlicher. Der Effekt eines Prozesses der funktionalen Entdifferenzierung wurde hier auch dadurch begünstigt, dass „im Rahmen der Kompetenzstreitigkeiten zwischen politischer Polizei und Strafgerichten letztere die faktisch schlechtere Ausgangsposition hatten, weil sie über keinen eigenen Verfolgungsapparat verfügten und daher nur jene Täter anklagen konnten, die von der Polizei an die Gerichte übergeben wurden“ (Staudinger 1999: 117).



Literatur

Baumann, Ulrich / Koch, Magnus (2008). „Was damals Recht war…“: Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht. Berlin / Brandenburg: be.bra-Verlag.

Epping, Volker (2010). Grundrechte. Berlin / Heidelberg: Springer.

Freisler, Roland (1938). Das kommende deutsche Strafverfahren. In: Deutsche Justiz, Heft 32 / 12.08.1938.

Hartl, Benedikt (2000). Das nationalsozialistische Willenstrafrecht. Berlin: Weißensee.

Kruse, Volker (2015). Kriegsgesellschaftliche Moderne. Zur strukturbildenden Dynamik großer Kriege. München / Konstanz: UVK.

Lange, Heinrich (1933). Generalklauseln und neues Recht. In: Juristische Wochenschrift 62 (1933). S. 2858-2859.

Majer, Diemut (1981). „Fremdvölkische“ im Dritten Reich. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Rechtssetzung und Rechtspraxis in Verwaltung und Justiz unter besonderer Berücksichtigung der eingegliederten Ostgebiete und des Generalgouvernements. Boppard am Rhein: Boldt.

Müller, Christian (1997). Das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933. Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag.

Müller, Ingo (1987). Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz. München: Kindler.

Peters, Karl (1938). Das gesunde Volksempfinden. Ein Beitrag zur Rechtsquellenlehre des 19. und 20. Jahrhunderts. In: DStR 1938. S. 337-350.

Reichsgesetzblatt (1939). Erste Verordnung zur Ergänzung der Kriegssonderstrafrechtsverordnung. http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=dra&datum=1939&page=2362&size=45 (letzter Zugriff: 15.09.2020)

Reichsgesetzblatt (1943). Vierte Verordnung zur Ergänzung der Kriegssonderstrafrechtsverordnung. http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=dra&datum=1943&page=281&size=45 (letzter Zugriff: 15.09.2020)

Reichsgesetzblatt (1944). Fünfte Verordnung zur Ergänzung der Kriegssonderstrafrechtsverordnung. http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=dra&datum=1944&page=129&size=45 (letzter Zugriff: 15.09.2020)

Rüthers, Bernd (1988). Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich. München: C. H. Beck. 
 
Staudinger, Roland (1999). Rassenrecht und Rassenstaat. Die nationalsozialistische Vision eines “biologischen totalen Staates”. Hall in Tirol: Berenkamp.

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