Kein Leben in Abkürzungen

Zum Tode von Martin Walser

Es muß etwa 2003 gewesen sein, kurz vorm Abitur: Im Deutsch-Leistungskurs hatten wir das Buch „Ein springender Brunnen“ von Martin Walser zu lesen und später in Form eines Referates vorzustellen. Ich: Damals noch überzeugter Juso, nicht nur – wie wohl noch heute – sozial- und wirtschaftspolitisch links, sondern auch gesellschaftspolitisch. Nicht flammend antifaschistisch, aber Internationalist. Ein Gespür für Walsers subtilen Erinnerungsansatz und seine Begabung, Vergangenheit erzählerisch als Gegenwart begreiflich zu machen, ging mir völlig ab. Als Schüler war die Lektüre für mich eher zähes Pflichtprogramm. Nun habe ich aber bis heute die (für Regale zuweilen im wahrsten Sinne des Wortes belastende) Angewohnheit, Bücher nicht wegzuwerfen. Ich konnte es nie, kann und will es bis heute nicht. Immer sagte ich mir: Jedes Buch hat seinen Wert, auch wenn du ihn (noch?) nicht siehst. Ich bin ein Bücher-Messie.

Vergangenheit als Gegenwart

Eine gute Einstellung, wie sich herausstellte. Eines Tages, viele Jahre und einige persönliche politische Entwicklungen später, sah ich wieder dieses alte Buch aus dem Deutsch-LK im Regal, auf den einzelnen Seiten die kritzeligen Bleistift-Anmerkungen eines ungeduldig-genervten Abiturienten, den damals ganz andere Dinge plagten als deutsche Erinnerungspolitik. Mittlerweile jedoch ausgestattet mit einem tieferen Bewußtsein über die Person Martin Walsers und seine Rolle als Intellektueller, seine Diskurse, Debatten und politischen Publikationen, auch über das Rückgrat, das er in diesen bewiesen hatte, schlug ich es wieder auf und las. Und las. Und las.

Nun wurde er mir zugänglich, dieser ganz besondere Ansatz der Erinnerungspolitik, den Marcel Reich-Ranicki so sehr attackiert hatte. Das Eintauchen in das Subjektive, in die, wie man in der Soziologie sagen würde, Mikro-Ebene, in die qualitative Dimension einer literarischen Sozialforschung verschaffte mir Einsichten in das Erleben der NS-Zeit, die man in dieser real existierenden Bundesrepublik nur noch selten zu lesen bekam. Aber Walser – irgendwie konnte er es sich erlauben. Und in der Gesamtsicht gesehen hat er sich ganz schön viel erlaubt. So viel, daß es aus meiner Sicht stärkere Beachtung unsererseits finden sollte.

Mindestens in den 60er und 70er Jahren galt Walser, wie sie viele seiner neuen westdeutschen Intellektuellen-Kollegen, als links: Trotz NSDAP-Mitgliedschaft ab 1944 setzte er sich später für Willy Brandt ein, stand gegen den Vietnam-Krieg, legte sich in einem Schriftwechsel mit der Deutschen Bank an, bereiste Moskau und zählte u. a. Ernst Bloch zu seinen Freunden. Wie falsch es jedoch wäre, sein Schaffen auf diesen doch eher klischeehaften biografischen Abschnitt zu verkürzen, zeigt der Blick auf sein späteres Wirken.

Paulskirchenrede und „Tod eines Kritikers“

Die politisch wohl bekannteste Station bildet die von ihm durch die berühmte „Paulskirchen-Rede“ im Jahre 1998 ausgelöste „Schlussstrich-Debatte“. In seiner Rede hatte er, zuweilen mit etwas langatmig-verschachtelten, aber womöglich gerade dadurch unangreifbareren Satzkonstruktionen, die Instrumentalisierung des Holocaust beklagt: In ihm wehre sich etwas gegen diese „Dauerpräsentation unserer Schande“. Auschwitz, so Walser, eigne sich nicht dafür, „Drohroutine“ zu werden, „Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung“. Hier brach offenkundig etwas aus Walser heraus, etwas, was sich angesammelt hatte und schließlich zu den erwartbaren hitzigen Reaktionen führte. Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrates der Juden, warf ihm gar „geistige Brandstiftung“ vor. Kleiner ging es, auch damals schon, nicht. Noch zwei Jahrzehnte später sollte die Walser-Rede in der Paulskirche wieder von jenen aus dem Archiv geholt werden, die sich an Björn Höckes Dresdener Rede zur Erinnerungspolitik (2017) abarbeiteten.

Die Vorwürfe gegen Walser endeten nicht mit der Paulskirchen-Debatte. Walser, der das Berliner Holocaust-Mahnmal anfänglich als „fußballfeldgroße[n] Albtraum im Zentrum der Hauptstadt“ und als „Kranzabwurfstelle“ bezeichnet hatte, veröffentlichte 2002 den Roman „Todes eines Kritikers“, in dem er insbesondere die Person und Rolle Marcel Reich-Ranickis karikiert. Die Antisemitismus-Vorwürfe ließen freilich nicht lange auf sich warten. Allgemein dominierte unter den zahlreichen Verrissen die Auffassung, Walser habe sich bei der Charakterzeichnung und Darstellung seiner Figur antijüdischer Klischees bedient und skizziere eine Art heimatlosen „Untermenschen“. Andere Kritiker sahen bei Walser eine Antipathie gegenüber der „jüdisch-christlichen Tradition“, zugunsten von Mystik und Heidentum; für seinen Roman hätten Alain de Benoist, Friedrich Nietzsche und Ernst Jünger als Inspirationsquellen gedient.

Nachdenken über Deutschland

Bis zuletzt hielt seine politische Streitbarkeit an: Der unermüdlich aktive Walser trat noch 95-jährig, gut ein Jahr vor seinem Tod, als Erstunterzeichner des in der Zeitschrift „Emma“ veröffentlichten Offenen Briefes an Bundeskanzler Scholz in Erscheinung, welcher sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine wendete und vor einem Dritten Weltkrieg warnte. Eine Kontinuität, die sich durch das Leben dieses Mannes zog wie ein roter Faden: Die Verbindung von linken Positionen mit dem Nachdenken über Deutschland. Jedoch, und dies ist das Besondere: Ein Nachdenken, das zwar stets kritisch, aber auch freundlich war, das ohne jenes angeekelte Fremdeln mit der Heimat auskam, das so viele andere seiner intellektuellen oder pseudointellektuellen Zeitgenossen ausmachte, in dem die positiven Gefühle für das Vaterland hervorstachen wie Reflexe. Nicht verkopft, nicht ideologisch ausgearbeitet, zuweilen etwas über sich selbst verwundert, eher assoziativ, im Grunde „einfach da“ und als solche anerkannt.

Martin Walser überbrachte – und dies wird eventuell manchen überraschen, der vielleicht erst geneigt war, ihm typisch gönnerhaft, aber ahnungslos eine spätere „konservative Wende“ im Anschluss an eine „linke Sündenphase“ attestieren zu wollen – dabei auch die Botschaft, dass linkes Denken patriotisches Fühlen durchaus nicht ausschließen muss, sondern mit diesem harmonieren kann. Dargelegt ist dies unter anderem in einem dokumentarischen Werk, das diesen Beweis anhand sehr vieler Personalien und Zeitdokumente erbringt: Peter Brandt und Herbert Ammon, seit jeher linkspatriotische Historiker und u. a. Autoren der heute wiederbelebten Zeitschrift „Wir selbst“, veröffentlichten 1981 als Herausgeber das Buch „Die Linke und die nationale Frage“, in dem sie Dokumente zur deutschen Einheit seit 1945 sammelten.

Das Katastrophenprodukt überwinden

Auf Seite 347 findet sich ein Auszug aus einem Redebeitrag Martin Walsers auf dem Literaturfest in Bergen-Enkheim am 1. September 1978. Thema natürlich: Die deutsche Frage. Lassen wir Walser selbst zu Wort kommen:

„Wenn es den Machern des Aktuellen gelingt, in uns das Bedürfnis nach Deutschland zum Erlöschen zu bringen, oder wenn es ihnen gelänge, dieses Bedürfnis auf ein Deutschland wie gehabt zu dressieren, dann werden BRD und DDR tatsächlich unsere Geschichte beschließen. Aber ich glaube, es existiert ein historisches Bedürfnis, das Katastrophenprodukt zu überwinden. Ich spüre ein elementares Bedürfnis, nach Sachsen und Thüringen reisen zu dürfen unter ganz anderen Umständen als denen, die jetzt herrschen. Sachsen und Thüringen sind für mich weit zurück und tief hinunter hallende Namen, die ich nicht unter „Verlust“ buchen kann. Aus meinem historischen Bewußtsein ist Deutschland nicht zu tilgen. Sie können neue Landkarten drucken, aber sie können mein Bewußtsein nicht neu herstellen.

Ich weigere mich, an der Liquidierung von Geschichte teilzunehmen. In mir hat ein anderes Deutschland immer noch eine Chance. Eines nämlich, das seinen Sozialismus nicht von einer Siegermacht draufgestülpt bekommt, sondern ihn ganz und gar selber entwickeln darf, und eines, das seine Entwicklung zur Demokratie nicht ausschließlich nach dem kapitalistischen Krisenrhythmus stolpern muß; dieses andere Deutschland könnte man, glaube ich, heute brauchen. Die Welt müßte vor einem solchen Deutschland nicht mehr zusammenzucken.

Wir alle haben auf dem Rücken den Vaterlandsleichnam, den schönen, den schmutzigen, den sie zerschnitten haben, daß wir jetzt in zwei Abkürzungen leben sollen. In denen dürfen wir nicht leben wollen. Wir dürften die BRD sowenig anerkennen wie die DDR. Wir müssen die Wunde namens Deutschland offenhalten.“
 
 
Walsers Linkssein vollbrachte schon spätestens 1978 eine ideelle Harmonisierungsleistung, die einem vom konservativen Mainstream kurioserweise immer noch oft verehrten Adenauer schon zur Zeit seines Amtsantritts fremd war: Das Denken und Fühlen, das Bewußt-Sein eines wiedervereinigten Deutschlands. Und: Eines Deutschlands ohne Abkürzungen und Verengungen, ohne Fundierung auf nationalen Traumata und Komplexen. In einem Deutschland, wie Walser es sich dachte, hätte auch die real existierende BRD nicht das letzte Wort gehabt.

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