Carl Schmitts Staatstheorie als Reflexionstheorie (I)

Zunächst einmal ist es vonnöten darauf hinzuweisen, dass der nun folgende Text keinen Anspruch auf vollständige Darstellung des politisch-theoretischen und rechtstheoretischen Werkes Carl Schmitts erhebt, welches sich durch zahlreiche Facetten auszeichnet und sich verschiedenster Fragestellungen nicht nur im staatsrechtlichen, rechtstheoretischen und (de facto auch) politisch- und rechtssoziologischen Feld, sondern auch etwa im Bereich des Völkerrechts und der Geopolitik angenommen hat. Vieles davon weist gewiss auch mittelbar und indirekt einen Zusammenhang zur hier erörterten Thematik auf, jedoch würde es den Rahmen eindeutig sprengen, sich dessen in Gänze zu widmen. Hierfür wäre eine eigene Arbeit geboten, die aber dafür die in dieser Analyse zentrale systemtheoretische Leitfrage zurückstellen müsste. Wir konzentrieren uns daher im Folgenden vor allem auf Carl Schmitts Begriff des Politischen (vgl. Schmitt 2015a), Teile seiner Politischen Theologie (vgl. Schmitt 2015b) sowie nicht zuletzt auch seine Beiträge in der Zeit des Nationalsozialismus selbst, im Zuge derer vor allem auch sein Aufsatz „Der Führer schützt das Recht“ (vgl. Schmitt 1934) als Dokument des Versuchs einer gezielten rechtstheoretischen Herrschaftslegitimation der Nationalsozialisten hervorsticht.

In der Fachliteratur wird zumeist von einem nicht unbeträchtlichen Einfluss ausgegangen, die Schmitts Werke auf das Staatsgebilde der Nationalsozialisten und seine Anschlussfähigkeit im Rechtssystem (inklusive der Rechtstheorie) gehabt haben (vgl. Rüthers 1988: 102ff.): „Die Wahl Schmitts als Beispiel rechtfertigt sich durch den intellektuellen Rang seiner Schriften und durch die Intensität seiner Wirkungen“ (Rüthers 1988: 102). Auch der erste bedeutende Analyst des NS-Staatswesens, Ernst Fraenkel, erklärt: „Schmitts Lehre ist von der Gestapo übernommen worden“ (Fraenkel 1984: 52). Hieraus erklärt sich auch unsere besondere Aufmerksamkeit und unsere Fokussierung speziell auf seine Theorie an dieser Stelle und im Kontext der primären Fragestellung dieser Arbeit. Schmitts ironische Anmerkung „Wenn ich der Totengräber [der Weimarer Republik] war, dann muß sie vorher gestorben sein, oder ein anderer hat sie vorher ermordet!“ (zitiert nach Maschke 1985), welche auf diese Anwürfe reagierte, stimmt also nur bedingt: Sein Wirken an der „rechtstheoretischen Front“ war mittelbar auch von beträchtlichem politischem Einfluss, der sich sowohl in Form einer Art Vordenkertätigkeit vor 1933 als auch in Form der Rolle des „Kronjuristen“ nach 1933 manifestierte. Dies bedeutet freilich nicht, dass ein Mann oder wenige Personen allein „Totengräber“ einer ganzen Republik bzw. eines ganzen Regierungssystems sein können – hierzu bedarf es logischerweise immer gesellschaftlicher Dynamiken, wie wir sie mit eben hier und mit eben jenem hier auszuarbeitenden Begriff der Entdifferenzierung fassbar zu machen versuchen. Trotzdem ist Schmitts Wirken im Rahmen dieses sozialstrukturellen Prozesses ein hochrelevanter Faktor gewesen, der dabei zugleich auch eine Art Symbolhaftigkeit in sich trägt, die ihresgleichen sucht. Rüthers formuliert es mit Blick auf Schmitt drastischer: „Es gibt eine ‚Schuld der Worte‘, und gerade die Zerstörung einer Staats- und Rechtsordnung kann durch tödliche Wörter bewirkt oder doch beflügelt werden“ (Rüthers 1988: 104).

Schmitts Theorie ist auch vor dem Hintergrund besonders interessant, da sie ebenso signifikante Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zu Luhmanns Systemtheorie aufweist. Einerseits bauen beide Theorien auf einem grundlegend differenzierungstheoretischen Charakter auf: Beide Theorien sehen nicht nur unterschiedliche, funktional definierte Systeme bzw. Sphären, die die Gesellschaft bzw. das Soziale ausmachen (im Gegensatz zur Systemtheorie findet man beim Rechtswissenschaftler Schmitt nicht den Anspruch vor, eine Gesellschaftstheorie abzuliefern, weswegen es auch keinen ausgearbeiteten Gesellschaftsbegriff gibt – obwohl seine Ausführungen auf das Konzept der Volksgemeinschaft als NS-Gesellschaftsbegriff hinauslaufen). Und beide Theorien sehen maßgebliche binäre Leitunterscheidungen eben dieser Systeme bzw. Sphären, die diese als „politisch“, als „ökonomisch“, als „ästhetisch“ etc. prägen und dadurch ihre Identität begründen und formieren.

Trotz dieser im Kontext der politischen Theorie schon recht auffälligen Gemeinsamkeiten kommen jedoch beide schließlich, gerade was die Rolle des Politischen angeht, zu völlig unterschiedlichen, ja letztlich gegensätzlichen analytischen und normativen Schlussfolgerungen. Nicklas Baschek hat diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede in aufschlussreicher Form in seinem Buch mit dem mehrdeutigen Titel „Anfeindungen“ (vgl. Baschek 2010) analysiert und aufgearbeitet, weswegen wir im Folgenden mehrmals auf seine Abhandlung Bezug nehmen werden. Dieses ist nicht nur nötig, weil die Theorie Schmitts mit Blick auf die Beantwortung der Leitfrage dieser Arbeit von hoher Bedeutung ist, sondern eben auch wegen ihrer bereits oben angedeuteten besonderen konzeptionellen Doppelrolle als empirischer Untersuchungsgegenstand und als ergänzender theoretischer Rahmen, der den Ansatz der Entdifferenzierung für die soziologische Systemtheorie unterfüttern könnte.

Im Gegensatz zu Luhmann, der „der politischen Sphäre keinerlei Sonderstatus zugesteht“ (Baschek 2010: 13), sondern sie als eines von vielen gesellschaftlichen Subsystemen betrachtet, die in der modernen funktional differenzierten Gesellschaft operativ geschlossen und selbstreferenziell nach der eigenen Funktionslogik operieren, nimmt Schmitts Theorie eine (Re-)Politisierung bzw. eine Überpolitisierung vor, indem sie das Politische allen anderen sozialen Sphären überordnet (vgl. ebd.: 13). Baschek schlussfolgert korrekt: „Ist das Politische immer und überall präsent, ist prinzipiell alles politisch? Schmitt würde diese Frage bejahen, Luhmann hingegen verneinen, so meine These“ (ebd.: 13). In der Tat: Für Schmitt, für den die Unterscheidung von Freund und Feind die Leitdifferenz oder, wie er es nennt, das Kriterium des Politischen ausmacht (vgl. Schmitt 2015a: 25f.), ist jene Sphäre eben dadurch imstande, mindestens im Ausnahmezustand alle anderen gesellschaftlichen Sphären zu verdrängen: Wo politisch, also zwischen Freund und Feind unterschieden werden muss, da ist es zunächst egal, was ökonomisch gewinnbringend oder riskant, ästhetisch ansprechend oder unattraktiv, moralisch gut oder böse oder aus medizinischer Sicht gesund oder ungesund ist. Die Unterscheidung von Freund und Feind ist demnach die existenzielle; diejenige, die am Ende auf die Frage von Leben und Tod, von Sein oder Nichtsein hinausläuft.

Insbesondere im Ausnahmezustand – sei es durch äußere oder innere Kriege, durch (Natur-) Katastrophen oder Seuchen – manifestiert sich diese übergeordnete Sphäre des Politischen plastisch und allgemein spürbar: Zu diesem „gehört (…) eine prinzipiell unbegrenzte Befugnis, das heißt die Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung. Ist dieser Zustand eingetreten, so ist klar, daß der Staat bestehen bleibt, während das Recht zurücktritt. Weil der Ausnahmezustand immer noch etwas anderes ist als Anarchie und Chaos, besteht im juristischen Sinne immer noch eine Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung. Die Existenz des Staates bewährt hier eine zweifellose Überlegenheit über die Geltung der Rechtsnorm. Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut. Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft eines Selbsterhaltungsrechtes, wie man sagt“ (Schmitt 2015c: 18f.). Tatsächlich ist – auch angesichts des aktuelleren Beispiels der Corona-Krise – schwer zu leugnen, dass im Rahmen eben solcher Ausnahmezustände das Politische selbst in sonst funktional differenzierten Gesellschaften plötzlich eine hervorgehobene Rolle, ein Primat einnimmt, welches in diesen sonst nicht zwingend spürbar ist. Allein dies zeugt einmal mehr die Notwendigkeit, derlei Formen von (mindestens temporären) politisierenden Entdifferenzierungen für die Systemtheorie konzeptionell und terminologisch fassbar zu machen.

Die Unterscheidung von Freund und Feind ist auch bei Schmitt stets selbstreferenziell, damit von ökonomistischen, „rationalen“ Kosten-Nutzen-Erwägungen entkoppelt und stattdessen vielmehr in einem dezisionistischem Sinne gedacht: „Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein; er muß nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen. Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so daß im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind“ (Schmitt 2015a: 26). Hierin zeigt sich gewissermaßen die bewusste Anerkennung politischer Irrationalitäten, wie sie auch in sozialpsychologischen Gruppendynamiken zum Ausdruck kommen. Folglich müsse auch, so führt Schmitt weiter aus, das, was moralisch böse, ästhetisch hässlich oder ökonomisch schädlich ist, ebenso wenig ein Feind sein wie moralisch Gutes, ästhetisch Schönes und ökonomisch Nützliches deswegen automatisch ein Freund sein müsse (vgl. ebd.: 26). In diesen differenzierungstheoretischen Ausführungen zeigen sich, mitsamt der ihnen stets inhärenten binären Sichtweise, zweifellos Parallelen zu Luhmanns Systemtheorie. Der maßgebliche Unterschied ergibt sich lediglich durch die Sonderrolle, die Schmitt dem Politischen zuschreibt, welches im Ausnahmezustand gewissermaßen imstande ist, eben jene anderen sozialen Sphären zu überlagern und zu dominieren – mit Luhmann gesprochen: als eine Art Metacode, der allerdings im Ausnahmezustand sehr konkret werden kann. Unnötig zu erwähnen ist, dass Schmitt mit dieser Perspektive gewiss auch eigene politische Hoffnungen und Vorstellungen verband, wie sie später im Rahmen seiner nationalsozialistischen Betätigungen zum Ausdruck kamen.

Implizit, ohne es so zu formulieren, enthält Schmitts Theorie auch eine deutliche Unterscheidung zwischen Makro- und Mikro-Ebene, die sich insbesondere dort zeigt, wo er auf die auch in der Freund-Feind-Frage relevante Differenzierung von Politisch bzw. Öffentlich einerseits und Privat andererseits verweist: Der politische Feind sei ein Feind, den man nicht persönlich zu hassen brauche (vgl. ebd.: 28). In dieser Fokussierung auf die gesellschaftliche Makro- anstatt auf die individuelle Mikro-Ebene zeigt sich eine konzeptionelle Gemeinsamkeit mit Luhmanns Systemtheorie, in der der „Mensch“ nicht Teil des sozialen Systems ist: „Schmitts Konzentration auf den bloß öffentlichen Feind korrespondiert mit [Luhmanns] ‚Auslagerung‘ des Menschen in die Umwelt“ (Baschek 2010: 35f.).

Zugleich müsse der Feind nicht zwingend ein äußerer sein, sondern könne auch ebenso ein innerstaatliches Phänomen darstellen (vgl. Schmitt 2015a: 31). Auch diese theoretische Prämisse bildete in gewissem Sinne eine Grundlage für die spätere staatsrechtliche Einstufung der Juden im Dritten Reich bzw. aller inländischen Gruppen, die die Nationalsozialisten nicht als Teil ihrer Volksgemeinschaft ansahen.

Die politische Theorie Schmitts ist eng an seine Liberalismus-Kritik gekoppelt, wie sie auch in seiner „Politischen Theologie“ (vgl. Schmitt 2015c) immer wieder zum Ausdruck kommt. Der Liberalismus habe demnach den politischen Feind in der ökonomischen Sphäre zum „Konkurrenten“ und auf der geistigen Seite zum „Diskussionsgegner“ verklärt (vgl. Schmitt 2015a: 27; 66), wie er etwa im von Schmitt abgelehnten Parlamentarismus als Hauptakteur zum Ausdruck kommt. „Gegnerschaft“ ist damit zu verstehen als eine Art liberale Abfederung der vormaligen „Feindschaft“, vom Kampf zur Diskussion, welcher aber eben in vielerlei Fällen keine klare Entscheidung, sondern oftmals eher Kompromisse nach sich zieht – was Schmitts Dezisionismus klar zuwider läuft. Er sah als die Folge des Liberalismus die Gefahr der Entpolitisierung (vgl. ebd.: 63ff.), welche durch eben jene Außerkraftsetzung der politischen Leitunterscheidung von Freund und Feind zustande käme, zugunsten einer gesellschaftlichen Ökonomisierung im oben angedeuteten Sinne. In der aktuellen Debatte schließt vor allem Chantal Mouffe an diese Gedanken an, mit der Forderung nach einem neuen (linken) Populismus als politischer Konklusion im Sinne des antagonistischen Charakters des Politischen (vgl. Mouffe 2007).

Der Liberalismus ist für Schmitt damit gewissermaßen eine Art paradox anmutende politische Weltanschauung, da sie aus seiner Sicht eben gerade auf einen Abbau des Politischen hinarbeitet: „Es gibt (…) eine liberale Politik als polemischen Gegensatz gegen staatliche, kirchliche oder andere Beschränkungen der individuellen Freiheit, als Handelspolitik, Kirchen- und Schulpolitik, Kulturpolitik, aber keine liberale Politik schlechthin, sondern immer nur eine liberale Kritik der Politik“ (Schmitt 2015a: 64). Theoretisch übersetzt könnte man sagen: Schmitt sah die funktionale Differenzierung, welche mit dem Liberalismus in der Moderne einhergeht und dem politischen System seine herausgehobene Stellung, sein Primat streitig machte, als Bedrohung. Da für ihn das Politische durch die Freund/Feind-Leitunterscheidung definiert war, die in einer funktional differenzierten Gesellschaft schwerlich als eine „gleichberechtigte“ Unterscheidung neben anderen Funktionscodes bestehen konnte (die Freund/Feind-Differenz muss aus dieser Perspektive heraus in ihren Folgen letztlich zwingend entdifferenzierend wirken, da sie vollends sonst sinnlos bzw. gesellschaftlich nutzlos wäre), würde es für ihn in einer Gesellschaft, in der das Politische nur noch ein Funktionssystem neben vielen ist, in dem mit Gegnern diskutiert, aber nicht mehr Feinde bekämpft werden, letztendlich als verschwunden und aufgelöst gelten müssen (und nicht lediglich, wie bei Luhmann, aus seiner hierarchischen Stellung entfernt und, sozusagen non-interventionistisch, auf sich selbst begrenzt) (vgl. Baschek 2010: 33).

Der kritische Terminus der Entpolitisierung ist demnach im theoretischen Kontext Schmitts durchaus konsequent: „Die systematische Theorie des Liberalismus betrifft fast nur den innenpolitischen Kampf gegen die Staatsgewalt und liefert eine Reihe von Methoden, um diese Staatsgewalt zum Schutz der individuellen Freiheit und des Privateigentums zu hemmen und zu kontrollieren, den Staat zu einem ‚Kompromiß‘ und staatliche Einrichtungen zu einem ‚Ventil‘ zu machen“ (Schmitt 2015a: 64). Teile von Schmitts Ausführungen über die liberale Entpolitisierung lesen sich wie eine Kritik dessen, was die Systemtheorie Luhmanns für die Moderne diagnostiziert (lediglich unterschieden dadurch, dass letztere die Diagnose über die Ebene der sozialen Systeme konzeptualisiert und dadurch vom Individuum entkoppelt): „Es ist sehr merkwürdig, mit welcher Selbstverständlichkeit der Liberalismus außerhalb des Politischen die ‚Autonomie‘ der verschiedenen Gebiete des menschlichen Lebens nicht nur anerkennt, sondern zur Spezialisierung und sogar zur völligen Isolierung übertreibt“ (ebd.: 66). Dem will Schmitt aus tiefreichender antimodernistischer Haltung heraus (vgl. Baschek 2010: 80) – welche ihn vor 1933 zu einem der wesentlichen Autoren auch der sogenannten Konservativen Revolution machte – entgegenwirken: „Er arbeitet an einer (Re-)Politisierung, an einer Renaissance der Hierarchisierung, indem das Politische eben nicht in Beliebigkeit von Wirtschaft, Kunst, Moral und Sport flankiert wird“ (Baschek 2010: 77).

Der Nationalsozialismus lief für Schmitt auf eine Wiederherstellung des Primats des Politischen, auf eine Rückabwicklung der liberalen Entpolitisierung hinaus, wie sie für ihn in der Weimarer Republik stattgefunden hatte. In gewisser Weise wurde dadurch, trotz der vor allem antibolschewistischen Rhetorik der Nationalsozialisten, der Liberalismus zum eigentlichen Hauptgegner, jedenfalls der der NS-Ideologie zugrundeliegenden Theorie, wie sie von Schmitt geprägt wurde. Dem anderen nationalsozialistischen Feindbild, dem Marxismus, bescheinigt Schmitt dagegen einen letztlich klaren politischen Charakter: „Das auffälligste und historisch wirksamste Beispiel ist die durch Karl Marx formulierte Antithese vom Bourgeois und Proletarier, die alle Kämpfe der Weltgeschichte in einem einzigen, letzten Kampf gegen den letzten Feind der Menschheit zu konzentrieren sucht, indem sie die vielen Bourgeoisien der Erde in eine einzige, die vielen Proletariate ebenfalls in ein einziges zusammenfaßt und auf diese Weise eine gewaltige Freund-Feindgruppierung gewinnt“ (Schmitt 2015a: 68; Hervorhebung entfernt). Der Marxismus war demnach ein politischer Feind des Nationalsozialismus, aber eben kein zusätzlich auch theoretisch-konzeptioneller Feind, wie der Liberalismus – im Gegensatz zu letzterem gewissermaßen lediglich ein Feind erster, aber nicht zweiter Ordnung.

Zugleich bildete er durchaus einen Feind, der, wie oben bereits angedeutet, paradox erscheint: „Entpolitisierung ist für Schmitt nur ein Vorbote der ‚Hyperpolitisierung‘“ (Baschek 2010: 38), denn der liberale Universalismus, den Schmitt wohl als einer der ersten implizit identifizierte und kritisierte, führe zur Dämonisierung des (nicht-liberalen) Feindes, indem diesem die Menschlichkeit abgesprochen werde (vgl. Baschek 2010: 38f.): „Wer Menschheit sagt, will betrügen“ (Schmitt 2015a: 51). Auf Umwegen arbeite demnach also auch der Liberalismus mit einer Freund-Feind-Unterscheidung.

Über jene Rückabwicklung der Entpolitisierung und die Wiederherstellung des Primats des Politischen wurde aus Schmitts Sichtweise zugleich die politische Einheit des Volkes wieder möglich, welche aus dieser Perspektive nur gewährleistet ist, wenn es in der Lage ist, zwischen Freund und Feind – also: zwischen jenen, die in die Volksgemeinschaft zu inkludieren sind, und jenen, die zu exkludieren sind – zu unterscheiden (vgl. Baschek 2010: 34). Andernfalls, ohne diese politische Unterscheidung, zerfällt gewissermaßen die Grenze zwischen dem Volk und dem „anderen“ und damit die Identität des Volkes – so, wie bei Luhmann das System verschwindet, wenn es nicht mehr zwischen sich und der Umwelt differenzieren kann. Obwohl es dabei zuerst in gewisser Weise konstruktivistisch anmuten mag, wenn Schmitt das Vornehmen einer Unterscheidung zur Grundlage des Politischen und damit zur Grundlage einer politischen Einheit, einer politischen Entität und damit einer kollektiven Identität als Volk macht, so ist aber letztlich klar, dass eben jenes Volk für ihn eine schon vorab faktisch gegebene, nicht sozial konstruierte Einheit bildet – das Unterscheiden von Freund und Feind im Rahmen des Politischen ist für ihn also nicht konstitutiv für das Volk, sondern dient aus seiner Sicht dessen Erhalt, weil es andernfalls verschwinden würde (vgl. ebd.: 50-54). Nichtsdestotrotz: Die Differenz bildet in Schmitts Theorie ebenso den roten Faden wie in der Systemtheorie Luhmanns, wenn auch unter anderen Prämissen und mit anderen (normativen) Konklusionen, welche bei Schmitt im Dritten Reich auf eine Befürwortung und theoretische Unterfütterung des Nationalsozialismus hinausliefen.

Eine der wichtigsten Stationen eben dieser theoretisch unterfütternden Betätigungen Schmitts bildete sein Aufsatz „Der Führer schützt das Recht“ (vgl. Schmitt 1934), der auf die Liquidierung der SA-Führung um Ernst Röhm durch Hitler reagierte und bezweckte, diese Maßnahme der Nationalsozialisten nachträglich staatsrechtlich zu legitimieren bzw., in Fraenkels Worten formuliert, eine rein maßnahmenstaatliche (d. h.: im politischen System angesiedelte) Aktion der NS-Führung normenstaatlich (d. h.: auch im Rechtssystem) anschlussfähig zu machen. Auch wenn hier ein spürbar offener politisch agierender Schmitt zu lesen war, so wird bei der Lektüre des Aufsatzes doch deutlich, dass auch die oben beschriebenen, also noch vor der NS-Machtergreifung ausgearbeiteten theoretischen Inhalte Schmitts diesen Versuch leiteten und fundierten. Betrachtet man den nicht unbeträchtlichen Einfluss des besagten Aufsatzes, so ist auch ihm eine Doppelrolle aus rechtssoziologischer Analyse des Systemverhältnisses von Politik und Recht im Dritten Reich einerseits (Beobachtung zweiter Ordnung) und aus gezielter rechts- und reflexionstheoretischer, auf funktionale Entdifferenzierung abzielender Programmkommunikation andererseits (Beobachtung erster Ordnung) zu attestieren.

Die Opfer der Aktion waren nicht nur die SA-Führung, sondern auch „Vertreter einer sich abzeichnenden konservativen Opposition gegen Hitler, die mit der SA nichts zu tun hatten, sowie aus anderen Gründen mißliebige Politiker, wie etwa der Vorsitzende der katholischen Aktion in Berlin, Erich Klausener. Insgesamt wurden auf Befehl Hitlers etwa 85 Menschen in verschiedenen Städten umgebracht“ (Rüthers 1988: 121), darunter auch der frühere Reichskanzler Kurt von Schleicher sowie der konservative Intellektuelle Edgar Julius Jung, der als Berater Franz von Papens für dessen berühmt gewordene „Marburger Rede“ verantwortlich gewesen war, die (auch von der NS-Führung) als Stellungnahme gegen den nationalsozialistischen Totalitarismus gewertet worden war.

Politischer Ausgangspunkt für Schmitts Aufsatz war schließlich eine Äußerung Hitlers im Rahmen einer Reichstagsrede vom 13. Juli 1934, mit welcher er wenige Wochen nach der Aktion zu seiner Rechtfertigung an die Öffentlichkeit trat und sie begründete: „In dieser Stunde war ich verantwortlich für das Schicksal der deutschen Nation und damit des Deutschen Volkes oberster Gerichtsherr“ (Hitler 1934; zitiert nach Schmitt 1934: 946). Schmitts Interpretation dessen und seine staatsrechtlichen Schlussfolgerungen daraus können durchaus als eine Art Kernsätze des politischen Programms zur funktionalen Entdifferenzierung bzw. der Politisierung des Rechts – oder wie es Gosewinkel auch nennt: der „Entrechtlichung“ (Gosewinkel 2005: XII; XLIVff.) – betrachtet werden: „Der wahre Führer ist immer auch Richter. Wer beides voneinander trennen oder gar entgegensetzen will, macht den Richter entweder zum Gegenführer oder zum Werkzeug eines Gegenführers und sucht den Staat mit Hilfe der Justiz aus den Angeln zu heben“ (Schmitt 1934: 946f.; Hervorhebungen F. S.).

Mit Wiebke Loosen (2007) gesprochen, zeigt sich hier ein Programm zur Entdifferenzierung gleich auf mindestens zwei Ebenen, nämlich auf der Ebene der Funktionssysteme Politik und Recht ebenso wie auch auf der strukturellen Ebene, auf der zwischen zwei personalen Ämtern – dem des „Führers“ und dem eines Richters – entdifferenziert werden soll. Indem der politische Führer auch zum Richter erhoben wird, endet aus diesem staatstheoretischen Verständnis heraus letzten Endes die dauerhafte operative Geschlossenheit des Rechtssystems – jedenfalls dann, wenn ein politisch definierter und proklamierter Ausnahmezustand, wie eben in diesem Fall die (vermeintliche) existenzielle Bedrohung des NS-Staates, es aus eben dieser politischen Sicht gebietet. Der zweite Satz des obigen Zitates liest sich derweil wie eine Kritik funktionaler Differenzierung, wie sie auch schon in Schmitts früheren Ausführungen gegen die liberale Entpolitisierung (s. o.) durchklingt: Die Trennung (Differenz!) von politischer Führung und Richteramt, wie in der Gewaltenteilung liberaler Demokratien üblich, schaffe „Gegenführer“ bzw. Werkzeuge dessen und richte sich letztlich gegen den Staat, welcher für Schmitt eben dadurch entpolitisiert und damit seines Fundaments entzogen werde. Hier wird deutlich, dass Schmitts hier postulierte Sicht durchaus im Einklang mit jenen Prämissen seiner Theorie stand, die er noch vor 1933 publiziert hatte.

Schmitts weitere Begründung ist denn auch durch und durch dezisionistischer Natur, indem sie das Vorgehens Hitlers aus sich selbst heraus legitimiert und sich strikt gegen das liberale Bedürfnis zur „Legalisierung“, zur nachträglichen Rechtfertigung wendet (vgl. Schmitt 1934: 947), womit er letztlich das Ansinnen seines eigenen Beitrages klärt, indem er vermittelt, dass die Aktion auch ohne die Artikulation seiner staatsrechtlichen Ansicht dazu ihre Berechtigung gehabt habe. Damit bestreitet er jene sozialstrukturelle Durchschlagskraft, die er letztlich aber eben doch gehabt hat, aus eher weltanschaulichen denn soziologischen Gründen: Schmitt macht den entdifferenzierten Zustand zum objektivierten, bestehenden Ideal, welches auch ohne ihn und seine normative Beschreibung existieren würde; lässt dabei außen vor, dass der Prozess der funktionalen Entdifferenzierung erst noch in Gänze greifen musste, um eben diesen Zustand herzustellen. Sein Aufsatz war unbestreitbar ein wichtiger Baustein dieses Prozesses.

Das Recht wird bei Schmitt zu einem Diener des Politischen anstatt zu einer Kontrollinstanz oder einer Schutzmauer desselben: „In Wahrheit war die Tat des Führers echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern war selbst höchste Justiz. (…) Alles Recht stammt aus dem Lebensrecht des Volkes. Jedes staatliche Gesetz, jedes richterliche Urteil enthält nur soviel Recht, als ihm aus dieser Quelle zufließt. Das Uebrige ist kein Recht, sondern ein ‚positives Zwangsnormengeflecht‘, dessen ein geschickter Verbrecher spottet“ (ebd.: 947). Das Volk, also eine politische Entität, wird demnach zum obersten Maßstab des Rechts, zum übergeordneten Ausgangspunkt, zum Primat, welches, folgt man Schmitts früheren Werken, nur durch die politische Unterscheidung von Freund und Feind bewahrt werden kann, welche somit auch determiniert, was rechtens ist und was nicht. Das Recht entspringt hundertprozentig dem Politischen und bildet keine eigene Sphäre, kein eigenes (gesellschaftliches Funktions-)System mehr. Es leitet sich ab aus der politisch definierten Volksgemeinschaft.

Die Begründung für dieses Politisierungsprogramm des Rechts ist, wie letztlich auch der Dezisionismus, zirkulär bzw. auf sich selbst bezugnehmend. Die Hitler-Äußerung, wonach am 30. Januar 1933 nicht zum soundsovielten Male eine neue Regierung gebildet, sondern ein neues Regiment ein altes und krankes Zeitalter beseitigt habe, wird von Schmitt zum Anlass genommen, alles zeitlich vorher gesetzte Recht grundsätzlich in Frage zu stellen; diesem ein neues juristisches Denken insgesamt entgegenzusetzen (vgl. ebd.: 947f.). Diese Infragestellung betrifft selbst solche Gerichtsurteile vor 1933, welche „aus einem berechtigten Widerstand gegen die Korruptheit des damaligen Systems“ (ebd.: 948) heraus entstanden sind, welche aber trotzdem von einem liberal-individualistischen Geist getragen worden seien, der, werde er so fortgeführt, die Justiz zum Feind des NS-Staates machen und das Richteramt in eine Frontstellung gegen Staatsoberhaupt, Regierung und Verwaltung bringen würde (vgl. ebd.: 948).

Das Programm zur Entdifferenzierung, welches, im Rahmen des „Führerstaates“, Recht und Justiz gegenüber der Politik in einer Art dienenden, exekutiven Funktion sieht, wurde hier also aus sich selbst heraus begründet: Gerade weil ab dem 30. Januar 1933 der Prozess der funktionalen Entdifferenzierung von Politik und Recht bzw. der Rückabwicklung der Differenzierung zwischen beiden Systemen angestoßen worden ist, sei eine Fortführung des Rechtsdenkens aus der Zeit davor im (im Dritten Reich) aktuellen Rechtsverständnis untragbar – eine Schlussfolgerung, welche den Effekt der Entdifferenzierung in der Folge noch verstärkt haben dürfte. Recht rekurriert auf Politik und agiert somit fremdreferenziell. Aus dem politischen Programm wurde durch diese Eigendynamik, diesen Schneeballeffekt, diese Verselbstständigung einer Grundstimmung ein breiter gesellschaftlicher Grundkonsens, in dem das politische System nicht mehr zwingend selbst intervenieren musste, sondern Systeme wie das Recht freiwillig „ihre Tore zur Fremdsteuerung öffneten“ bzw. Kontextsteuerung stattfand.

Der große öffentliche Einfluss, den der Autor des Beitrages als „Kronjurist des Dritten Reiches“ hatte, und seine Rolle als eine der wichtigsten staatsrechtlichen Autoritäten des NS-Staates, die Tatsache, dass dem Aufsatz an keiner anderen Stelle ernsthaft widersprochen wurde, sowie die allgemeine politische und rechtliche Folgenlosigkeit dieser Aktion des NS-Maßnahmenstaates und dessen kurz- und langfristige politische Stärkung durch eben jene Folgenlosigkeit bilden starke Indizien dafür, dass die oben skizzierte Sichtweise eben nicht nur ein politisches Programm war, sondern in der Konsequenz auch zur politischen und letztlich gesellschaftsstrukturellen Realität wurde. Schmitt schuf somit durch seinen Aufsatz selbst neue politische Fakten. Seine Theorie wurde zur Sozialtechnologie und somit zugleich zu einer Reflexionstheorie des politischen Systems und des Rechtssystems zugleich, die über die Rolle einer reinen strukturellen Kopplung hinausging, vielmehr eine operative Kopplung bezweckte – also nicht Systemgrenzen aufzeigte, sondern diese zu überwinden versuchte. Die Politisierung des Rechts schuf ein gemeinsames Reflexionsinstrument, gewissermaßen einen gemeinsamen Spiegel, der auf dem Terrain des politischen Systems stand und in den das Rechtssystem, dessen Mauer zum Politischen via Entdifferenzierung durch- und weggebrochen worden war, fortan selbst mit dem Fernrohr schauen musste, um sich darin im Lichte des Politischen (anstatt wie zuvor im eigenen Licht) zu betrachten – eine zugegeben blumige Metapher, die aber die entstandenen gesellschaftlichen Veränderungen und die enorme sozialstrukturelle Durchschlagskraft (!) von Schmitts Theorie plastisch deutlich machen sollte.

Das wohl größte Indiz dafür, dass Schmitt hier nicht lediglich die Privatmeinung irgendeines Staatsrechtlers artikulierte, sondern nicht weniger als die Staatsrechtsdoktrin des neuen Staates mit absolutem Geltungsanspruch, besteht darin, dass kurze Zeit vor Veröffentlichung des Aufsatzes und in der Folge der Liquidierung der SA-Führung die Nationalsozialisten das „Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr“ verabschiedeten, auf welches sich auch Schmitt in seinem Aufsatz bezieht (vgl. ebd.: 948f.). Dieses aus nur einem einzigen Satz bestehende Gesetz erklärte die Aktionen, welche im Gesetz konkret auf den 30. Juni sowie den 1. und 2. Juli 1934 datiert wurden, nachträglich als „Staatsnotwehr“ für rechtens (vgl. Werle 1989: 135f.). Auch hierin kam Hitlers Anspruch, nicht nur politischer Führer, sondern der Deutschen „oberster Gerichtsherr“ zu sein, zum Ausdruck: Niemand anders konnte und durfte aus dieser Selbstsicht heraus über die Rechtmäßigkeit exekutiver Maßnahmenurteilen urteilen, denn niemand durfte über dem Führer bzw. über dem Politischen stehen. Was Recht ist und sein darf, bestimmte die Politik und niemand anders.

Nun mag man hier, etwa mit Viktor Winkler (2005), wieder das Argument anführen, dass allein die Tatsache, dass die Regierung ein Gesetz verabschiedete, um ihre maßnahmenstaatliche Aktion im Nachhinein rechtlich anschlussfähig zu machen, dafür spräche, dass es weiterhin ein ausdifferenziertes Rechtssystem gegeben habe, und dass man ansonsten schließlich die Aktion auch schlicht und einfach ohne Versuch der nachträglichen rechtlichen Legitimation hätte „durchziehen“ können. Für dieses Argument spricht folgende Anmerkung Schmitts zu dem besagten Gesetz und den in ihm getätigten, konkreten zeitlichen Angaben: „Außerhalb oder innerhalb des zeitlichen Bereiches der drei Tage fallende, mit der Führerhandlung in keinem Zusammenhang stehende, vom Führer nicht ermächtigte „Sonderaktionen“ sind umso schlimmeres Unrecht, je höher und reiner das Recht des Führers ist“ (Schmitt 1934: 948f.). Damit bzw. mit der Formulierung im Gesetz wurden „wilde“ Aktionen, die sich in den Bereich der Lynch- und Selbstjustiz einordnen ließen und nicht vom Staat selbst ausgingen, für illegal erklärt, womit auch einer Art „nationalsozialistisch geprägter Anarchie“ eine Absage erteilt wurde. Der (Maßnahmen-)Staat sollte das letzte Wort darüber behalten, wer wann auf welche Weise gegen wen vorgeht.

Doch ist auf dieser Basis eine vollständig aufrechterhaltene Autonomie des Rechts und eine intakte funktionale Differenzierung zwischen Politik und Recht auszumachen? Wir sagen: Nein, denn das letzte Wort darüber, wer wann wo wie gegen wen vorging, hatten zwar nicht wildernde Lynchgruppen, aber eben auch nicht die Justiz. Stattdessen oblag es einzig und allein dem politischen System, repräsentiert durch den „Führer“ und seine Regierung, zu definieren, welche Aktion rechtmäßig ist und welche nicht. Eine letztendliche Rechtsbindung gab es auch durch das besagte Gesetz nicht – hätte der Maßnahmenstaat eine erneute Aktion beschlossen, die nicht mehr von dem Gesetz gedeckt gewesen wäre, hätte er einfach ein neues beschließen können. Das Recht wurde reduziert auf eine Rolle als ausführendes Organ, wenn auch weiterhin mit eigener „Systemsprache“, an die zur politischen Legitimation Anschluss hergestellt werden sollte. Die Beeinflussungsmöglichkeiten der Justiz wurden dabei durch Schmitts Rechtstheorie ausgeschaltet: „Daß die Abgrenzung ermächtigten und nichtermächtigten Handelns im Zweifelsfalle nicht Sache der Gerichte sein kann, dürfte sich nach den vorigen Andeutungen über die Besonderheit von Regierungsakt und Führerhandlung von selbst verstehen“ (ebd.: 949).

Am Ende sollte es nach Schmitt immer der Führer sein, der definiert und entscheidet, was der Führer tun darf, ganz im Sinne des Dezisionismus – die Entscheidung legitimiert sich aus sich selbst heraus. Auch diese Position Schmitts war nicht neu, sondern von ihm schon im „Jahr der Machtergreifung“ in seiner Schrift „Staat, Bewegung, Volk“ artikuliert worden: Demnach könne die Aufgabe, die politische Einheit des Volkes zu gewährleisten, „keine andere Stelle, am wenigsten ein justizförmig prozedierendes bürgerliches Gericht der Partei oder SA abnehmen. Hier steht sie [die NSDAP; F. S.] ganz auf sich selbst“ (Schmitt 1933: 22). Schmitt begreift den neuen NS-Staat als faktische Umsetzung auch seiner Theoriearbeit vor 1933, als wahrhaft „politisch“ in seinem Sinne: „[Die Feinde Deutschlands] werden es unerhört finden, daß der heutige deutsche Staat die Kraft und den Willen hat, Freund und Feind zu unterscheiden“ (Schmitt 1934: 950). Die von uns für das Dritte Reich diagnostizierte funktionale Hierarchisierung und Entdifferenzierung zwischen Politik und Recht sah Schmitt, ohne es so zu bezeichnen, also schon in seinen Anfängen vorliegen.

Gleichwohl: Was nicht nur Schmitts Aufsatz „Der Führer schützt das Recht“, sondern vor allem auch das oben beschriebene Gesetz dennoch nahelegen, ist die Erkenntnis, dass die Frage von Differenzierung und Entdifferenzierung keine Frage des „Entweder oder“ sein kann, wie man dies im Sinne einer „orthodoxen“ systemtheoretischen Betrachtungsweise vielleicht annehmen würde. Dass das politische System des Dritten Reiches im Jahre 1934 noch die Notwendigkeit sah, derlei Aktionen im Nachhinein sowohl rechtlich, per Gesetz, sowie auch rechtstheoretisch, über Aufsätze wie den Schmitts, zu rechtfertigen, also an die „Sprache des Rechtssystems“ anschließen zu lassen, zeigt durchaus Unterschiede etwa zur Phase ab Kriegsbeginn 1939 auf. Einen Versuch, den industriell organisierten Holocaust im Vor- oder im Nachhinein rechtlich anschlussfähig zu machen, gab es nicht, was durchaus graduelle Unterschiede im Ausmaß der von 1933 bis 1945 erfolgten Entdifferenzierung und daher eine skalenartige, gradualisierbare Betrachtungsweise von Differenzierung und Entdifferenzierung sozialer Systeme nahelegt.

In jedem Fall aber zeigt insbesondere Carl Schmitts Dezisionismus, der zu einer Art NS-Rechtsdoktrin wurde, auf, wie das Rekurrieren auf explizit politische Entscheidungen anstatt auf rechtliche Prämissen (letzteres wäre für ihn gleichbedeutend mit liberalem Positivismus gewesen) die Differenzierung zwischen politischem System und Rechtssystem aufhob. Dies wurde nicht nur darin sichtbar, dass der Führerbefehl dezidiert als Rechtsquelle verstanden wurde, sondern auch darin, dass die reale Möglichkeit der physischen Tötung gegenüber Feinden genauso bestand wie gegenüber ehemaligen Freunden, die nun als Feinde deklariert wurden (vgl. Rüthers 1988: 124). Das heißt, maßgeblich war keine in irgendeiner Form „objektiv“ gegebene, „nicht-politische“ Wahrheit, sondern einzig und allein die politische Entscheidung darüber, wer Freund ist und wer Feind. Die Entscheidung wird legitim und ist rechtlich zu exekutieren einfach dadurch, dass sie politisch getroffen worden ist. Mehr Einfluss auf sich selbst kann ein Rechtssystem dem politischen System nicht einräumen. Radikaler wäre nur noch die komplette Selbstabschaffung bzw. die Selbstparalyse zumindest in bestimmten gesellschaftlichen Feldern und Vorgängen – wie sie im Zuge des Holocausts in der späteren Phase des Dritten Reiches eintraten.



Literatur

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Gosewinkel, Dieter (2005). Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur. Forschung und Forschungsperspektiven. In: Dieter Gosewinkel (Hrsg.), Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur. Frankfurt a. M.: Klostermann. S. IX-LIX.

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Maschke, Günter (1985). Positionen inmitten des Hasses – Der Staat, der Feind und das Recht. Der umstrittene Denker Carl Schmitt – Zu seinem Tode. In: FAZ vom 11.04.1985.

Mouffe, Chantal (2007). Über das Politische – Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Rüthers, Bernd (1988). Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich. München: C. H. Beck.

Schmitt, Carl (1933). Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit. Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt.

Schmitt, Carl (1934). Der Führer schützt das Recht. In: Deutsche Juristen-Zeitung, Jg. 39, Heft 15, S. 945-950.

Schmitt, Carl (2015a). Der Begriff des Politischen. Text von 1932 (9., korrigierte Aufl.). Berlin: Duncker & Humblot.

Schmitt, Carl (2015b). Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf (8. Aufl.). Berlin: Duncker & Humblot.

Schmitt, Carl (2015c). Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (10. Aufl.). Berlin: Duncker & Humblot.

Werle, Gerhard (1989). Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich. Berlin: De Gruyter.

Winkler, Viktor (2005). Lehren aus Luhmann. Für eine andere Sicht auf Recht im „Dritten Reich“. In: Forum Recht 01/2005. http://www.forum-recht-online.de/2005/105/105winkler.pdf (letzter Zugriff: 09.11.2018)

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