Kritik der Totalitarismus-Theorie

Die Totalitarismus-Theorie kann wohl ohne Übertreibung als einer der einflussreichsten Ansätze der Politikwissenschaft überhaupt angesehen werden, deren Termini in die politische und journalistische Alltagssprache eingegangen sind und in den entsprechenden politischen und massenmedialen Kontexten auch dann verwendet werden, wenn die dahinter stehende Theorie den Betreffenden eigentlich kaum bekannt ist (dieses Phänomen der auch „außerwissenschaftlichen Anschlussfähigkeit“ kann wohl auch als ein Indikator für den besonderen Erfolg einer Theorie gesehen werden, auch wenn dies nicht zwingend etwas Positives über ihre Komplexität aussagt). Ihre Entstehungsphase und auch ihre besondere Blütezeit erlebte sie zu Beginn und in der Hochphase des Kalten Krieges in den 50er und 60er Jahren. Den „Startpunkt“ bildete Hannah Arendts (1991) heute schon legendär gewordenes, im Jahre 1951 erstveröffentlichtes Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, in dem diese unter dem Eindruck des Nationalsozialismus in Deutschland, des Faschismus in Italien und des Stalinismus in der Sowjetunion eine Typologie totalitärer Herrschaftssysteme vorlegte. Arendt zufolge „machen der uneingeschränkte Verfügungsanspruch und die willkürliche Herrschaft der totalitären Weltanschauungspartei und ihres Führers über das Volk den spezifischen Kern des Totalitarismus aus. Das Wesen des Totalitarismus besteht in der totalen Kontrolle eines Regimes über das Alltagsleben, die Handlungen, die Verhaltensweisen und sogar die Gedanken der Bürger“ (Merkel 2004: 184).

In der Folge wurde das Totalitarismus-Konzept von anderen Autoren weiter ausgearbeitet und mit einer Art Kriterienkatalog versehen, der es ermöglicht, Nationalsozialismus, Faschismus, Stalinismus und gegebenenfalls auch weitere Fälle als Ausprägungen eines einzigen speziellen Herrschaftsmodells zu betrachten. Einer der maßgeblichsten Beiträge dazu stammt von Carl J. Friedrich und dem späteren Nationalen Sicherheitsberater Jimmy Carters, Zbigniew Brzezinski, welche dem Totalitarismus bestimmte Charakteristika wie erstens eine offizielle, alles überwölbende Ideologie, zweitens eine einzige, hierarchisch strukturierte und über dem Staat stehende Massenpartei, drittens ein staatlich-polizeilich-geheimdienstliches Terrorsystem, viertens ein staatliches Medienmonopol, fünftens ein staatliches Waffenmonopol und sechstens eine zentrale Wirtschaftsplanung attestieren (vgl. Friedrich / Brzezinski 1957; Merkel 2004: 186). Für das Dritte Reich können alle genannten Punkte aus gegeben betrachtet werden, wenn auch mit der Zusatzbemerkung, dass die NSDAP mit dem Staat und seiner – zumindest anfangs weiterhin eher von konservativen Beamten dominierten – Ministerialbürokratie eher in einem Rivalitätsverhältnis stand und längst nicht immer eine Dominanz über ihn entfaltete, was dann im Ergebnis in einer Art „Doppelstaatlichkeit“ mündete (vgl. Fraenkel 1984). Grundsätzlich allerdings ist der Kriterienkatalog der Totalitarismus-Theorie für das Dritte Reich zunächst durchaus von hoher Plausibilität.

Innerhalb der Sozialwissenschaften wurde jedoch seit der damaligen Zeit immer wieder auch teils sehr grundsätzliche Kritik an der Totalitarismus-Theorie laut, im Zuge derer verschiedenste Aspekte des Konzeptes problematisiert wurden. Die wohl prominenteste und früheste Kritik entzündete sich bereits während der Zeit des Kalten Krieges, aber im Kontext der Entspannung ab Anfang der 70er Jahre: Hier wurde moniert, dass die Theorie gewissermaßen eine politische Funktion für die Westmächte erfülle, da sie den „real existierenden Sozialismus“ des Ostblocks konzeptionell mit dem Faschismus, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus (im engeren Sinne) gleichsetze und damit zugleich mögliche Veränderungen und Wandlungsprozesse im jeweiligen Herrschaftssystem ignoriere bzw. quasi blind für diese sei (vgl. Merkel 2004: 187f.). Sicherlich können – wie eigentlich bei den meisten sozialwissenschaftlichen Theorien – politische Motive im Hintergrund nicht ausgeschlossen werden, und in der Tat muss die Theorie als ein recht „statisches Konzept, das keinerlei theoretisches Instrumentarium liefert, um die zeitliche Entwicklungsdynamik totalitärer Herrschaft zu analysieren“ (Merkel 2004: 187), bewertet werden, woraus zugleich auch eine mangelnde Fähigkeit, Prognosen aufzustellen, ergibt (vgl. ebd.: 187). Bezeichnenderweise tappt sie damit in eben jene theoretische Falle, in die auch die soziologische Systemtheorie tappen würde, würde sie auf einem streng dichotomischen, nicht gradualisierbaren „Entweder-oder“-Verständnis von Differenzierung und Entdifferenzierung beharren: Wandlungsprozesse könnten nicht in den Blick genommen werden. Das hier vertretene Ansinnen, Entdifferenzierung als Zustand und als Prozess für die Systemtheorie beobachtbar zu machen, kann insofern durchaus auch als eine Reaktion auf das Negativbeispiel der Totalitarismus-Theorie verstanden werden.

Eine jüngere Kritik ergibt sich aus der in den letzten Jahrzehnten immer differenzierter gewordenen politikwissenschaftlichen Typologie nicht-demokratischer, also autokratischer Herrschaftssysteme, welche sich schlicht aus der seitdem weiter gewachsenen Vielfalt diesbezüglich ergeben haben dürfte und insbesondere zwischen der totalitären Variante einerseits und der „nur“ autoritären Variante andererseits differenziert. So seien die oben genannten Kriterien „nicht geeignet, um autoritäre von totalitärer Herrschaft zu unterscheiden“ (ebd.: 186); der staatliche Terror durch manche autoritäre Regimes habe einen höheren Intensitätsgrad erreicht als der einiger totalitärer Regimes, wenn man etwa das Chile oder das Argentinien der 70er Jahre mit der DDR der 70er und 80er Jahre vergleiche (vgl. ebd.: 186). In der Tat hat die politische Ideologie der „realsozialistischen“ Systeme des Ostblocks die dortigen Gesellschaften um ein Vielfaches mehr „durchdrungen“ als es die – oftmals eigentlich recht ideologiefreien – autoritären Regimes etwa der südamerikanischen Militärdiktaturen vermochten, weswegen gerade letztere mehr Gewalt und Brutalität anwenden mussten, weil sie nicht über jene subtilen, teils über Jahrzehnte perfektionierten Methoden der Repression und der Indoktrination verfügten, mit denen die Regimes des Ostblocks aufwarten konnten (vgl. ebd.: 186). Hier wird das Kriterium „staatlicher Terror“ in der Tat zu einem wenig aussagekräftigen Merkmal, da die Aussagekraft über dessen Hintergründe und Intentionen und damit auch über die dahinterstehende Gesellschaftsstruktur stark begrenzt ist. Resultiert der staatliche Terror aus „Machtlosigkeit“ im Sinne Luhmanns, die die Anwendung von Gewalt und Zwang erforderlich macht, wie im Falle vieler autoritärer Regimes? Ist er, wie im Falle des Stalinismus Ende der 30er Jahre, das Resultat interner Machtkämpfe und paranoider Tendenzen an der Spitze des Regimes? Oder resultiert er vielmehr, wie beim Dritten Reich der Fall, aus der zugrundeliegenden politischen Ideologie und deren rassistischer Leitunterscheidung selbst? Die Totalitarismus-Theorie ist offensichtlich nicht fähig, derlei Unterschiede, die aber eben von hoher soziologischer Bedeutung sind, zu erfassen.

Auch an diesem Punkt zeigt sich erneut der Wert einer systemtheoretisch inspirierten Skala, die von funktional differenzierter bis hin zu funktional entdifferenzierter Gesellschaftsstruktur reicht. Mit dieser wäre es recht problemlos möglich, den Unterschied von autoritärer und totalitärer Autokratie zu erfassen, indem auf den Grad an Politisierung anderer Funktionssysteme abgestellt wird: So ließe sich hier etwa – ohne diese Gedanken im Folgenden weiterzuführen – die These aufstellen, dass in den autoritären Staaten Südamerikas in den 70er Jahren funktionale Differenzierung im Großen und Ganzen nicht nur weiter vorlag, sondern sogar auch politisch gewünscht wurde, wenn man etwa an die US-amerikanische Unterstützung Pinochets und die damit verbundenen wirtschaftsliberalen (also: auf operative Geschlossenheit des Wirtschaftssystems zielenden) Intentionen der USA inmitten des Kalten Krieges denkt. Zugleich ist, der Untersuchung Pollacks (1994) dazu folgend, in der totalitären DDR eine deutlich stärker politisierte und funktional entdifferenzierte (Organisations-)Gesellschaft feststellbar gewesen, womit die ideologische „Durchdringung“ dieser, aber damit eben auch die geringere Gewalt erklärt werden kann, da die politische Leitunterscheidung sozialistisch / nicht sozialistisch so weit gesellschaftlich internalisiert war, dass diese oft nicht mehr nötig wurde. Für den Fall des Nationalsozialismus würde man dahingegen, wie oben bereits betont, von einer Gewalt ausgehen, die gewissermaßen in seiner ideologischen Logik selbst mit angelegt war. Damit kann zugleich auch festgestellt werden, dass „Totalitarismus“ nur über eine – mindestens ergänzende – soziologische, also auf gesellschaftsstrukturelle Eigenschaften schauende Perspektive identifiziert und beobachtet werden kann.

Teile des Kriterienkatalogs der Totalitarismus-Theorie lassen sich zudem durchaus als Indizien für politische Motivationen im Kontext des Kalten Krieges begreifen. Wenn darunter etwa das – eben auch für Demokratien durchaus nicht ungewöhnliche (vgl. Merkel 2004: 186f.), aber besonders in den USA verpönte – staatliche Monopol auf Kampfwaffen fällt, ebenso wie auch eine zentrale Wirtschaftsplanung, welche für den „realsozialistischen“ Ostblock charakteristisch war, aber im US-präferierten kapitalistischen Wirtschaftssystem undenkbar ist, dann scheinen darin durchaus klassische, vor allem in den USA dominant gewesene Feindbilder des Kalten Krieges zum Ausdruck zu kommen. Merkel kritisiert hier ferner, dass insbesondere der letztgenannte Punkt somit nur noch die kommunistischen Regimes und das Dritte Reich ab 1941 als totalitär qualifiziere, aber beispielsweise nicht das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland von 1936, wo von einer zentralen Wirtschaftslenkung (noch) nicht wirklich die Rede sein kann (vgl. ebd.: 187) – eine Kritik, die von Uwe Backes geteilt wird (vgl. Backes 2007: 622). Auch in diesem Punkt lässt sich festhalten: Das Konzept von Differenzierung versus Entdifferenzierung erlaubt hier „feinere“, im wahrsten Sinne des Wortes differenziertere Blicke auf gesellschaftliche und damit auch auf politische Herrschaftsstrukturen, da einzelne Systemverhältnisse in den Blick genommen werden können, ohne sich derlei Schwierigkeiten hinsichtlich der Kriterienkataloge für umstrittene politikwissenschaftliche Termini einzuhandeln. Letztere zeigen dann eben auch auf, dass terminologische Diskussionen zu der Frage „Totalitarismus – Ja oder nein?“ wenig ergiebig, da unterkomplex bleiben müssen, solange man nicht einzelne Systemverhältnisse und die verschiedenen, abgestuften Grade der Entdifferenzierung in Form einer Politisierung in den Blick nimmt.

Aus spezifisch soziologischer Sicht offenbart sich nicht nur bei der Rezeption der klassischen Totalitarismus-Theorie selbst, sondern selbst auch der (inner-)politikwissenschaftlichen kritischen Diskussion dieser immer wieder ein inhärentes methodisches und theoretisches Grundproblem, das scheinbar weder von den klassischen Urhebern der Theorie noch von ihren kritischen politikwissenschaftlichen Rezipienten wirklich erfasst oder thematisiert worden ist. Der systemtheoretisch geprägte Beobachter registriert eine stetige Diffusion zwischen Aussagen über den Herrschaftsanspruch des Totalitarismus einerseits und dessen tatsächlicher Realisierung andererseits. In seinem eigenen, von ihm selbst aufgestellten Kriterienkatalog für Totalitarismus nennt Wolfgang Merkel den Punkt des „Herrschaftsanspruches“ und leitet ihn ein wie folgt: „Die Frage heißt hier: Ist der Herrschaftsanspruch der Regierenden begrenzt oder unbegrenzt? In welchem Maße durchdringt die staatliche Macht die gesellschaftliche und private Sphäre? (…) In totalitären Herrschaftssystemen ist der staatliche Herrschaftsanspruch unbegrenzt, gleichgültig ob es sich um die politische, gesellschaftliche oder private Sphäre handelt. Es gibt weder normativ noch faktisch Reservate, die eine Teilautonomie für sich reklamieren können“ (Merkel 2004: 190f.). Das Zitat muss jeden (Makro-)Soziologen insofern aufhorchen lassen, als dass darin schlicht keine – jedoch zwingend notwendige! – Differenzierung zwischen Anspruch und Umsetzung bzw., wie Merkel es nennt (s. o.), normativer und faktischer Dimension zum Ausdruck kommt. Vielmehr findet hier eine Gleichsetzung statt in der Art, dass scheinbar aus Sicht der Totalitarismus-Theoretiker und auch ihrer „Reformer“ innerhalb der Politikwissenschaft ab dem Moment, ab dem ein totalitärer Herrschaftsanspruch erhoben wird, dessen Umsetzung – in Form einer gesellschaftlichen Durchdringung – auch nicht mehr weit entfernt ist.

Unsere Beurteilung dieses zentralen und leider recht schwerwiegenden analytischen Defizits bestätigt sich im Zuge von Rezeptionen anderer Beiträge aus dem Kontext der Totalitarismus-Theorie: So ist an anderer Stelle terminologisch unpräzise und überraschend leichtfertig bis flapsig die Rede von „totalitär verfasste[n] Gesellschaften“ (Kraushaar 1996: 468), von Totalitarismus als „totaler Kontrolle über die Gesellschaft“ (vgl. Brzezinski 1996: 273), von post-totalitären Gesellschaften – was ja impliziert, dass es dort zuvor auch totalitäre gab – (vgl. Ballestrem 1996: 249), von absoluter Kontrolle über alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, einer allgewaltigen Dominanz des Staates über die Gesellschaft und völliger Vernichtung der Unterschiede zwischen Staat und Gesellschaft (vgl. Gadshijew 1996: 329f.; 334), von „Herrschaft über die Gesellschaft“ (Schlangen 1976: 43), „totale[r] Erfassung und Gleichschaltung aller Lebensbereiche“ (ebd.: 45), „Umgestaltung der Gesellschaft“ (ebd.: 59) und „unbeschränkte[r] Kontrolle der Gesellschaft“ (ebd.: 109) und zahlreichen anderen, ähnlich formulierten „absoluten“ Gesellschaftsdiagnosen. Dies alles wird von den jeweiligen Autoren artikuliert, ohne dass in ausreichender Form der Beweis erbracht würde, dass der totalitäre Anspruch auch gesamtgesellschaftlich umgesetzt wurde, womit im Grunde eine höchst gewichtige makrosoziologische Diagnose buchstäblich in einem kurzen Nebensatz vorweggenommen wird, ohne diese zu fundieren, ja sogar ohne dass ein eigener ausgearbeiteter Gesellschaftsbegriff vorläge oder der einer anderen theoretischen Richtung Verwendung fände – Gesellschaft scheint in dieser Lesart lediglich ein diffuses Etwas zu sein, das alles Soziale umfasst, was quasi „nicht der Staat ist“.

Diese fehlende gesellschaftstheoretische Fundierung lässt sich sogar bei jenen – wenigen – Totalitarismus-Ansätzen wiederfinden, im Rahmen derer eine differenziertere, d. h. in diesem Fall: steuerungsskeptischere Perspektive auf Totalitarismus dargelegt wird (vgl. bspw. Kielmannsegg 1996: 292f.; 300f.), welcher aber eben eine Gesellschaftstheorie zugrunde liegen müsste, die hinreichend komplex und ausgearbeitet genug ist, damit die berechtigten Einwände überhaupt konzeptionell beherzigt und aufgegriffen werden können. Ein Vorgehen, wie es in den klassischen Beiträgen zur Totalitarismus-Theorie dargelegt wird, kann aus der soziologischen Perspektive heraus hingegen nur als hochproblematisch bewertet werden. Auch der der Theorie ansonsten eher offen begegnende Ludolf Herbst kommt somit folgerichtig zu der Feststellung: „Totalitarismustheorien sind wie alle zeithistorischen Theorien von begrenzter Reichweite. Sie sind nicht geeignet, den Rahmen für eine Supertheorie abzugeben, die in der Lage wäre, die Komplexität des nationalsozialistischen Herrschafts- und Gesellschaftssystems in allen wichtigen Aspekten zu erklären“ (Herbst 1999: 20).

Dies gilt umso mehr, als dass signifikante empirische Anzeichen immerhin darauf hindeuten, dass auch in den etwa von Merkel als totalitär eingestuften Fällen etwa der DDR und des Dritten Reiches (vgl. Merkel 2004: 186; 196) immer auch gesellschaftliche Sphären bestanden, die von der totalitär-politisierenden Entdifferenzierung nicht oder zumindest noch nicht erfasst werden konnten, selbst wenn dies den langfristigen Planungen und Programmen der betreffenden Regimes betraf: Man denke hier etwa an das Religionssystem bzw. die Kirchen sowohl im Dritten Reich als auch in der DDR. Bei näherem Blick ließen sich auch in anderen historischen Fällen recht schnell Beispiele finden, die aufzeigen, dass der totalitäre Anspruch längst nicht zwingend immer umgesetzt wurde und damit das totalitäre politische System auch längst nicht immer gleichbedeutend mit einer totalitären Gesellschaft war, wie dies aber eben die oben genannten Zitate nahelegen. Herbst fasst hierzu treffend – und systemtheoretisch inspiriert – zusammen: „Man darf ja nicht auf die Phraseologie totalitärer Regime hereinfallen und glauben, dass sie ihren totalen Kontrollanspruch in komplexen Gesellschaften durchsetzen können. Dies ist ein Ding der Unmöglichkeit. Lenkung, Planung und Kontrolle können nur unter ganz einfachen Bedingungen total oder nahezu total sein. Unter den Bedingungen der Komplexität ist immer nur partiale Planung und Lenkung möglich“ (Herbst 1999: 25). Die maßgeblichen Vertreter der Totalitarismus-Theorie und viele der sie prägenden Autoren erwecken aber eben diesen Eindruck, weswegen Herbsts ansonsten dargelegte Befürwortung von Vergleichen totalitärer Regimes durch die „Brille“ der Theorie (vgl. Herbst 1999) eher irritierend anmutet – jedenfalls dann, wenn man die Theorie im Zuge einer solchen vergleichenden Anwendung nicht letztlich entstellen und durch eine faktische systemtheoretische Brille ersetzen will. In diesem Fall allerdings wäre es dann sinnvoller, präziser und konsequenter, gleich von (funktionaler und gegebenenfalls politisierender) Entdifferenzierung zu sprechen als um der Anschlussfähigkeit willen die politikwissenschaftliche Totalitarismus-Terminologie beizubehalten.

Ein Grund für das oben beschriebene, schwerwiegende analytische Defizit der Totalitarismus-Theorie mag ohnehin nicht nur in dieser selbst, sondern grundsätzlich im Praktizieren einer Politikwissenschaft ohne „soziologische Irritationsleistung“ liegen. In jedem Fall aber zeigt die Problematik wiederum auf, was eine explizit soziologische, gesellschaftstheoretische Betrachtung des politischen Phänomens Totalitarismus stattdessen zu leisten vermag, wenn sie es als Zustand und als Prozess einer politisierenden funktionalen Entdifferenzierung konzeptualisiert und damit nicht nur verschiedene Grade eben dieser, sondern auch ihre Auswirkungen auf gesamtgesellschaftliche bzw. gesellschaftsstrukturelle – und nicht nur explizit politische – (System-)Verhältnisse in den Blick nimmt.



Literatur

Arendt, Hannah (1991). Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus: Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München: Piper.

Backes, Uwe (2007). Was heißt Totalitarismus? Zur Herrschaftscharakteristik eines extremen Autokratie-Typs. In: Katarzyna Stoklosa / Andrea Strübind (Hrsg.), Glaube – Freiheit – Diktatur in Europa und den USA. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 609-625.

Ballestrem, Karl Graf (1996). Aporien der Totalitarismus-Theorie. In: Jesse, Eckhard (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung. Baden-Baden: Nomos. S. 237-251.

Brzezinski, Zbigniew (1996). Dysfunktionaler Totalitarismus. In: Jesse, Eckhard (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung. Baden-Baden: Nomos. S. 263-276.

Fraenkel, Ernst (1984). Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“. Frankfurt a. M.: Fischer.

Friedrich, Carl J. / Brzezinski, Zbigniew (1957). Totalitäre Diktatur. Stuttgart: Kohlhammer.

Gadshijew, Kamaludin (1996). Totalitarismus als Phänomen des 20. Jahrhunderts. In: Jesse, Eckhard (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung. Baden-Baden: Nomos. S. 320-340.

Herbst, Ludolf (1999). Das nationalsozialistische Herrschaftssystem als Vergleichsgegenstand und der Ansatz der Totalitarismustheorien. In: Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.), Totalitarismus. Sechs Vorträge über Gehalt und Reichweite eines klassischen Konzepts der Diktaturforschung. Berichte und Studien Nr. 18. Dresden: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden. S. 19-26.

Kielmannsegg, Peter Graf (1996). Krise der Totalitarismus-Theorie? In: Eckhard Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung. Baden-Baden: Nomos. S. 286-304.

Kraushaar, Wolfgang (1996). Sich aufs Eis wagen. Plädoyer für eine Auseinandersetzung mit der Totalitarismustheorie. In: Eckhard Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung. Baden-Baden: Nomos. S. 453-470.

Merkel, Wolfgang (2004). Totalitäre Regimes. In: Totalitarismus und Demokratie 01/2004, Heft 2, S. 183-201.

Pollack, Detlef (1994). Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirchen in der DDR. Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer.

Schlangen, Walter (1976). Die Totalitarismus-Theorie. Entwicklung und Probleme. Stuttgart: Kohlhammer.

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