Machtkreislauf und charismatische Herrschaft

Im Zuge der zu diesem Thema zuletzt dargelegten Erkenntnis wird die Dominanz deutlich, die die Politik über die Verwaltung im Dritten Reich ausübte, auf die sie, wie das Phänomen des Maßnahmenstaates aufzeigt, nicht mehr bzw. im Laufe der Zeit immer weniger zwingend angewiesen war. Der informelle Einfluss der Verwaltung auf die Politik im Dritten Reich dürfte sich insofern weitaus mehr in Grenzen gehalten haben als dies in modernen liberalen Demokratien bzw. Staaten mit rationaler Herrschaftslegitimation gemäß Max Webers Typologie üblich ist, wo (staatliche) Bürokratien dahin tendieren, Politik in subtiler Form über Fachwissen und Expertise in ihren Apparaten zu dominieren (vgl. Kieser 2006: 67ff.).

Diese wurde jedoch aus historisch-soziologisch informierter Perspektive mit der Machtergreifung Hitlers durch eine charismatische Herrschaftsform im Weberschen Sinne ersetzt (vgl. Wehler 2009: 13-24), die nicht mehr auf rationale Begründungen zurückgreifen muss, um Macht auszuüben. Zwar beschreibt Webers Typologie Idealtypen, die empirisch in den seltensten Fällen in eben dieser idealen Form wiederzufinden sein dürften, und zwar bedurfte natürlich auch der NS-Staat weiterhin staatlicher, wissensbasierter Bürokratien, um effektive politische Herrschaft über ein nicht unbeträchtliches und immer weiter anwachsendes Territorium auszuüben, weswegen der Aspekt der rational-bürokratischen Herrschaftslegitimation auch in diesem Fall nicht vollständig negiert werden kann. Er schlug sich nicht zuletzt in dem nieder, was Fraenkel (1984) als „Normenstaat“ beschrieb – also in einem Gebilde, was als solches, formal gesehen, auch schon vor der NS-Machtergreifung bestand. Im Maßnahmenstaat der Nationalsozialisten jedoch manifestierte sich ein Konkurrenz-Apparat, der der charismatischen Herrschaftsform entsprang, mit der stets ein Primat des Politischen und damit, auch mit Schmitt (2015: 39; 60) gesprochen, ein Dezisionismus bzw. ein „Primat der Entscheidung“ einhergeht (vgl. Wehler 2009: 19): Aufgrund „seiner ‚überrechtlichen Dezisionsmacht‘ gewinnt [der Charismatiker] eine letztinstanzliche Entscheidungsgewalt, die es ihm ermöglicht, in dezisionistischem Stil und zutiefst arbiträr gesellschaftliche Normen und Traditionen, konventionelle Umgangsformen und rationale Begründungszwänge außer Kraft zu setzen“ (Wehler 2009: 17). Der politische Dezisionismus der Nationalsozialisten und das Charisma der Person Adolf Hitler standen, folgt man Wehlers Lesart, in einem direkten Zusammenhang. Es ist daher keineswegs verfehlt, im persönlichen Charisma Hitlers eine maßgebliche Ursache in jenem nationalsozialistischen Grundkonsens zu sehen (vgl. ebd.: 18), welcher die meiste Zeit über die Gesellschaft des Dritten Reiches prägte und Herbst (2005) zufolge eine Form der politischen Kontextsteuerung ursprünglich nicht-politischer Funktionssysteme ermöglichte. Und in jedem Fall kann daher auch angenommen werden, dass die charismatische Herrschaftsform die rationale so weitgehend verdrängte, dass sich der in liberalen Demokratien oft vorhandene informelle Einfluss der Verwaltung auf die Politik stark in Grenzen hielt. Auch an dieser Stelle ist also der Machtkreislauf, wie ihn Luhmann beschrieb, recht eindeutig unterbrochen.

Eine formelle Einwirkung dergestalt, dass kollektiv bindende Entscheidungen exekutiert wurden und die dementsprechenden Maßnahmen der Verwaltung sich auf das Publikum auswirkten, lag selbstverständlich vor, wie dies in jedem funktionierenden Staat, in jeder politischen Entität, die kein failed state ist, der Fall ist. Wie wir jedoch bereits festgestellt haben, war die Exekution politischer Entscheidungen hier kein Alleinstellungsmerkmal der Verwaltung (also: des Normenstaates) mehr, sondern wurde ergänzt durch die Maßnahmen der Politik – in Form der NSDAP und ihrer teils paramilitärischen und (u. a. geheim-)polizeilichen Teilorganisationen – selbst, die über den Maßnahmenstaat die klassische bürokratische Verwaltung umgehen konnte. Eine formelle Schnittstelle lag hier also gleich in zweifacher Form vor. In der informellen Stoßrichtung sah es jedoch – für eine Diktatur naturgemäß – anders aus: Bürgerliche und „zivilgesellschaftliche“ Gestaltungs- und Protestmöglichkeiten, in Form etwa des Vorhandenseins einer dialogorientierten Verwaltung oder von Demonstrationen, Bürgerinitiativen oder politischen Vereinen bis hin zur Partizipation in demokratischen Parteien, sind in einem totalitären, nach dem Führerprinzip ausgerichteten Regierungssystem freilich nicht gegeben. Der informelle Machtkreislauf ist also an dieser Schnittstelle abermals offensichtlich unterbrochen.

An der Schnittstelle zwischen Publikum und Politik ist in der formellen Richtung ebenfalls von einer Unterbrechung des Machtkreislaufs auszugehen: In einer Diktatur ist das Volk nicht mehr der Souverän. Wahlen gab es nach 1933 nur nach Ausschaltung von wesentlichen Teilen der politischen Konkurrenz und ohne wirkliche Chance auf Veränderung der politischen Verhältnisse durch eben jene Wahlen. Von einem demokratischen Einfluss des Publikums auf die Politik ist also nicht mehr auszugehen – nicht seitens der „volksgemeinschaftlich“ inkludierten Teile des Publikums und erst recht nicht seitens der exkludierten Teile. Teilweise anders zu bewerten ist dagegen die Richtung des informellen Machtkreislaufs an eben dieser Schnittstelle: Die Politik beeinflusste das Publikum auf verschiedenste Weise – einerseits über den bereits oben beschriebenen Maßnahmenstaat, der die Verwaltung bzw. den Normenstaat übergehen und sowohl auf die inkludierten als auch auf die exkludierten Teile der Bevölkerung seine Macht ausüben konnte, andererseits aber eben auch über die Inklusion derer, die man zur Volksgemeinschaft rechnete, in die NSDAP und ihre zahlreichen Unterorganisationen, die, wie beschrieben, der mal mehr, mal weniger subtilen Politisierung und damit der Indoktrination der Bevölkerung dienten. Über die informelle Schnittstelle zwischen Politik und Publikum wurde also die Macht der Nationalsozialisten massiv und äußerst wirkungsvoll stabilisiert und etabliert. Sie war letztlich einer jener Faktoren, die die nationalsozialistische Herrschaft zu einem nicht nur autoritären, sondern eben totalitären Regierungssystem machten. Die Indoktrination und die nationalsozialistische Politisierung ergab sich hier aber eben nicht nur über die Inklusion, sondern über den bei eben dieser Inklusion fehlenden Pluralismus: Auch in demokratischen Mehrparteiensystemen haben politische Parteien Vorfeldorganisationen, die inkludierende Schnittstellen zwischen Politik und Publikum bilden – in diesen Fällen jedoch wird gerade über die pluralistische parteipolitische „Angebotsvielfalt“ die totalitäre Machtstabilisierung einer einzelnen Partei vermieden.

In der Gesamtsicht lässt sich somit aber feststellen, dass im politischen System des Dritten Reiches weder von einem formellen noch von einem informellen Machtkreislauf die Rede sein kann, auch wenn die einzelnen, systemtheoretisch postulierten Bestandteile dessen durchaus auch in diesem Fall vorhanden waren und es immer mal wieder stellenweise dynamische Verhältnisse zwischen diesen gab. Klar zu beobachten ist jedoch, dass die Macht recht statisch bei der Politik verortet war und zentral von dieser ausging, während die Verwaltung als ein partielles Machtinstrument, aber immer weniger als ein eigener Machtfaktor diente, wie dies dagegen in Luhmanns Modell der Fall ist. Das Publikum wiederum befand sich in der gleich zweifach passiven Rolle sowohl des Adressaten der Machtausübung als auch, im Falle der zur Volksgemeinschaft gerechneten Teile der Bevölkerung, des politisch zu inkludierenden Elements.

Kann im Falle des Dritten Reiches vor dem Hintergrund dieser Bestandsaufnahme überhaupt noch von einem politischen System die Rede sein? Wir bejahen dies, denn es lag sowohl eine entsprechende binäre Codierung der Kommunikation vor, die diese zu etwas explizit Politischem machte, als auch immer noch eine hinreichende Systemkomplexität, die sich zwar nicht mehr durch einen Machtkreislauf, wohl aber durch die Binnendifferenzierung von Zentrum und Peripherie sowie durch die zusätzliche Differenz von Normenstaat und Maßnahmenstaat auszeichnete. Jene Komplexitätsreduktion, die eine erwartbare Folge der Transformation von einem demokratischen System zur Diktatur ist, trat gesellschaftsstrukturell, über die politisierende Entdifferenzierung anderer Funktionssysteme ein, nicht aber in der internen Struktur des politischen Systems, welches ganz neue Komplexitäten herausbildete. Und auch Kontingenz wurde über das Ende des liberal-demokratischen Parteien- und Meinungspluralismus massiv reduziert – jedoch tat sich sogleich neue Kontingenz auf, wenn man etwa an die vielfältigen internen Konflikte und Rivalitäten des „Doppelstaates“, seiner Gremien, Stellen, Einrichtungen und führenden Repräsentanten sowie die Richtungskämpfe innerhalb von Reichsregierung und NSDAP rund um das Jahr 1934 denkt, die sich schließlich im „Röhm-Putsch“ zuspitzten. Der Versuch, politische Komplexität und Kontingenz im Zuge der Installierung einer Diktatur zu reduzieren, muss also nicht zwingend glücken, da sich sehr schnell entsprechende neue Herausforderungen auftun können. Im Nationalsozialismus war dies unzweifelhaft der Fall.



Literatur

Fraenkel, Ernst (1984). Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“. Frankfurt a. M.: Fischer.

Herbst, Ludolf (2005). Steuerung der Wirtschaft im Nationalsozialismus? Systemtheoretische Aspekte. In: Dieter Gosewinkel (Hrsg.), Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur. Frankfurt a. M.: Klostermann. S. 3-13.

Kieser, Alfred (2006). Max Webers Analyse der Bürokratie. In: Alfred Kieser / Mark Ebers (Hrsg.), Organisationstheorien (6. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. S. 63-92.

Schmitt, Carl (2015). Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (10. Aufl.). Berlin: Duncker & Humblot.

Wehler, Hans-Ulrich (2009). Der Nationalsozialismus. Bewegung, Führerherrschaft, Verbrechen 1919-1945. München: Verlag C. H. Beck.

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