„Ganz normale“ funktionale Differenzierung im Dritten Reich?

Ludolf Herbst (2005) steht mit seiner Skepsis gegenüber der Annahme einer allzu weit reichenden, einzig auf direktiven Systeminterventionen beruhenden Entdifferenzierung im Dritten Reich nicht allein. Viktor Winkler (2005) etwa geht noch weiter und bestreitet – in einem kurzen Beitrag, aber historisch durchaus nicht unfundiert – ganz grundsätzlich Auflösungserscheinungen der funktionalen Differenzierung im Dritten Reich, explizit dargestellt am auch hier im Fokus stehenden Systemverhältnis von Politik und Recht. So verweist er etwa darauf, „dass es weder in der Verwaltung noch in der Justiz zu einer personellen Kompletterneuerung gekommen ist, dass weder auf die Richterschaft noch auf die (nicht-jüdische) Jurisprudenz als solche direkter Zwang ausgeübt wurde, statt dessen beide Gruppen an mehreren Stellen die Zielvorgaben der Führung sogar an Schärfe übertroffen haben“ (Winkler 2005: 2). Der Nationalsozialismus sei im Feld der Wirtschaftspolitik geradezu konsensbemüht gewesen und habe zu keiner Zeit einen totalen Zugriff auf die Gesellschaft verwirklicht, weswegen das Bild vom „totalen“ bzw. „totalitären“ Staat unzutreffend sei (vgl. ebd.: 2). Da die Nationalsozialisten zum Zeitpunkt der Machtergreifung 1933 auf eine funktional ausdifferenzierte Gesellschaft trafen, sei selbst Hitlers Ernennung zum Reichskanzler für die sozialen Systeme zunächst nur „outside noise“ (ebd.: 2) gewesen. Aus dieser Konstellation heraus ist aus Winklers Sicht Ernst Fraenkels (1984) These vom „Doppelstaat“ systemtheoretisch zu erklären, da man zunächst einmal nur parteibasierte Ämter und Einrichtungen neben die bestehenden staatlichen Stellen setzen konnte: „Alles zu beherrschen, das ist in ausdifferenzierten Gesellschaften nicht mehr möglich. Natürlich besteht immer die physische Möglichkeit, alle auszuwechseln, alle zu ermorden, alles zu besetzen. Aber damit ist, selbst theoretisch, das System höchstens zerstört, aber nicht eingenommen“ (Winkler 2005: 2).

Ohne es direkt so zu formulieren argumentiert Winkler energisch gegen die These der funktionalen Entdifferenzierung im Dritten Reich an. So verweist er in diesem Zusammenhang und hinsichtlich des politischen Umgangs auf die Parallelen von Wirtschafts- und Rechtssystem: Ebenso wenig, wie im Wirtschaftssystem Verstaatlichungen stattfanden, obwohl das Parteiprogramm der NSDAP dies durchaus vorgesehen hatte, fanden im Rechtssystem personelle Massensäuberungen statt – vielmehr sei es für das politische System entscheidend gewesen, die „Sprache“ des Rechtssystems zu sprechen (vgl. Winkler 2005: 3): „So wird es sinn- und bedeutungsvoll, wenn das Regime es offenbar für erforderlich hielt, das „Ermächtigungsgesetz“ dreimal zu verlängern – wo doch vermeintlich die nackte Gewalt regierte; wenn im „Unrechts-Staat“ dem Reichstag de iure in dem gesamten Zeitraum von 1933 bis 1945 seine Gesetzgebungskompetenz verblieb“ (ebd.: 3). Es seien weiterhin „Gesetzesattrappen“ produziert worden, während die eigentlichen Ziele über Weisungen und Erlasse umgesetzt worden seien und zugleich Rechtstheoretiker wie Carl Schmitt sich den Nationalsozialisten freiwillig – „ohne Druck, ohne Terror, ohne Not“ (ebd.: 3) – angedient und an dessen Kommunikationen angeschlossen hätten (vgl. ebd.: 3). Auch die Rechtsprechung habe linientreu entschieden, ohne durch etwaige Gesetze extra an die neue Führung gebunden werden zu müssen, die Verwaltung habe sich oftmals ohne direkte Befehle von oben radikalisiert und es habe eine Vielzahl an neuen rechtswissenschaftlichen Publikationen im „Unrechts-Staat“ gegeben (vgl. ebd.: 3): „Weder Justiz noch Verwaltung noch Rechtswissenschaft sind je zu reinen Befehlsempfängern geworden. Sie mussten es nicht. Überhaupt ist mit der Freisetzung autopoietischer Eigendynamik ein wesentlicher Charakterzug des „Dritten Reiches“ akkurat erfasst“ (ebd.: 3). Damit ist quasi die direkte Gegenthese zur Vermutung einer erfolgten funktionalen Entdifferenzierung, wie sie dagegen an dieser Stelle postuliert wird, aufgestellt.

Doch nicht nur das: Winkler geht so weit, dass er die moralischen Reaktionen auf die Geschichte des Dritten Reiches zuweilen in eine „wissenschaftliche Kapitulation“ (ebd.: 3) münden sieht, wenn gewissermaßen die gesellschaftsstrukturelle „Normalität“, die mit der aus seiner Sicht gegebenen, stabilen funktionalen Differenzierung auch im Dritten Reich herrschte, nicht mit erfasst wird und der Nationalsozialismus damit als ein historisch einzigartiges Phänomen gerahmt wird, wie dies zuweilen in populärwissenschaftlichen, dämonisierenden Verarbeitungen des Themas im Fernsehen der Fall ist (vgl. ebd.: 3f.). Aus dieser Sichtweise heraus ermöglicht die Einstufung des Dritten Reiches als – frei nach Christopher Browning (1993) und Stefan Kühl (2014) – „ganz normaler“ Fall einer funktional differenzierten Gesellschaft sozusagen ein stärkeres Gefahrenbewusstsein, da es den Nationalsozialismus nicht als ein abstraktes, singuläres und damit unwahrscheinliches historisches Ausnahmephänomen bewertet, sondern als etwas, das aus der auch heute gegebenen, modernen Gesellschaftsstruktur heraus noch genauso möglich wäre, mit „ganz normalen Männern“ (vgl. Browning 1993), „ganz normalen Organisationen“ (vgl. Kühl 2014) und eben einer „ganz normalen“ funktional differenzierten Gesellschaftsstruktur. Deren autopoietische Funktionssysteme hatten – aus Winklers Sicht – Hitlers Herrschaft sogar eher stabilisiert als sie zu gefährden, während Hitler und die führenden Nationalsozialisten selbst genau darum „intuitiv“ wussten und, beginnend mit der legal vollführten Machtergreifung und im weiteren Verlauf mit dem von Herbst und (noch eindeutiger) von Winkler angenommenen (s. o.) „Spielen auf der Klaviatur der funktionalen Differenzierung“, entsprechend subtil vorgingen (übrigens auch hinsichtlich des Umgangs mit der Reichswehr bzw. der späteren Wehrmacht, deren Führungsebene eher Kontinuität erfuhr, was Hitler neben den alliierten Industriellen einen weiteren Verbündeten beschert hatte).



Literatur

Browning, Christopher (1993). Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. Reinbek: Rowohlt.

Fraenkel, Ernst (1984). Der Doppelstaat. Recht und Justiz im „Dritten Reich“. Frankfurt a. M.: Fischer.

Herbst, Ludolf (2005). Steuerung der Wirtschaft im Nationalsozialismus? Systemtheoretische Aspekte. In: Dieter Gosewinkel (Hrsg.), Wirtschaftskontrolle und Recht in der nationalsozialistischen Diktatur. Frankfurt a. M.: Klostermann. S. 3-13.

Kühl, Stefan (2014). Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust. Berlin: Suhrkamp. 
 
Winkler, Viktor (2005). Lehren aus Luhmann. Für eine andere Sicht auf Recht im „Dritten Reich“. In: Forum Recht 01/2005. http://www.forum-recht-online.de/2005/105/105winkler.pdf (letzter Zugriff: 09.11.2018)

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