Systemtheorie V: Inklusion und Exklusion


Die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion ist sowohl innerhalb der systemtheoretischen Konzeption als auch im Rahmen eines soziologischen Blickes auf das Dritte Reich von hoher Bedeutung. An dieser Stelle jedoch soll es zunächst einmal um die grundlegende systemtheoretische Unterscheidung von Inklusion und Exklusion nach Niklas Luhmann und Rudolf Stichweh gehen, die in einem direkten Zusammenhang zur Theorie funktionaler Differenzierung steht.

Die Unterscheidung bezieht sich explizit auf die Ebene des Gesellschaftssystems, ist also makrosoziologischen Charakters. Zugänge zu Interaktions- oder Organisationssystemen sind damit nicht gemeint (vgl. Luhmann 2018: 619), so dass damit wohl auch ein Bezug zu Gruppensystemen ausgeklammert werden kann. Selbstverständlich kann man auch in diese inkludiert bzw. aus diesen exkludiert werden, jedoch dürfte es schwierig werden, eine Systematisierung der Faktoren, nach deren Maßgabe dies im Einzelnen geschieht, vorzunehmen. Im Falle von Organisationssystemen könnten es etwa Qualifikationsanforderungen an Arbeitnehmer seitens eines Wirtschaftsunternehmens genauso sein wie ideologische Erwartungen an potenzielle Mitglieder einer politischen Partei. Im Falle von Gruppensystemen determinieren Gruppendynamiken und habituelle Faktoren die Frage der Zugehörigkeit; bei Interaktionssystemen können bereits zufällige, rein situative Einflüsse ausschlaggebend sein.

Im Gesellschaftssystem allerdings gewinnt die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion eine politische Dimension, da sie mal mehr, mal weniger direkt an die jeweilige Gesellschaftsstruktur gekoppelt ist. Während in segmentär differenzierten Gesellschaften in eben jene Segmente inkludiert wurde (indem man Angehöriger eines Stammes war) und in stratifizierten Gesellschaften – neben weiter bestehenden Inklusions- und Exklusionsregelungen durch die Familien – hierbei das Primat der sozialen Schicht galt (vgl. ebd.: 622), ist in der modernen Gesellschaft die Inklusion Aufgabe von deren Teilsystemen, welche, entsprechend ihrer jeweiligen Funktion für selbige, Inklusion in teils sehr unterschiedlicher Weise gestalten.

In welcher Weise hier jeweils die Inklusion erfolgt, determiniert der Code des betreffenden Funktionssystems, an dessen Kommunikation partizipiert werden soll. Beispiele für Inklusionsformen in die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft bieten die allgemein geltenden Erwartungen der Rechtsfähigkeit (Zugang zum Rechtssystem) und der Zahlungsfähigkeit (Zugang zum Wirtschaftssystem), die Wahlberechtigung (Zugang zum politischen System), die Schulpflicht (Zugang zum Bildungssystem), die Krankenversicherung (Zugang zum Gesundheitssystem) und die Religionsfreiheit (Zugang zum Religionssystem) (vgl. ebd.: 625): „Individuen müssen sich an all diesen Kommunikationen beteiligen können und wechseln entsprechend ihre Kopplungen mit Funktionssystemen von Moment zu Moment“ (Luhmann 2018: 625).

Demnach lässt sich also auch feststellen, dass in der modernen Gesellschaft Institutionen wie Demokratie, Rechtsstaat und Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat (vgl. Luhmann 2011) als maßgebliche Garanten gesellschaftlicher Inklusion gelten können, da sie eben diese oben genannten Zugänge zu funktionalen Subsystemen der Gesellschaft zu gewährleisten haben. Auch auf der globalen Ebene ist die Inklusion zu einer Norm geworden, die sich in der Politik von Staaten und globalen Organisationen niederschlägt. Dies gilt auch abseits des mittlerweile üblich gewordenen „politischen“ Inklusionsbegriffes, der explizit die Partizipation von Menschen mit Behinderung meint. Die globalisierte Norm der Inklusion im soziologisch-systemtheoretischen Sinne zeigt sich im Menschenrechtsuniversalismus, im Zuge dessen jeder Mensch auf der Welt in die nunmehr ausdifferenzierten Weltsysteme inkludiert werden soll – ein Ziel, zu dessen Umsetzung mehrere Unterorganisationen der UN und andere globale Organisationen geschaffen wurden. Luhmann attestiert diesem Phänomen eine totalitäre Logik (vgl. Luhmann 2018: 625f.), die „verlangt, daß ihr Gegenteil [also die Exklusion; F. S.] ausgemerzt wird“ (ebd.: 626), also Inklusion rings um den Globus zum zu erwartenden Normalzustand wird. Dies ist freilich auch bisher nicht der Fall, weswegen mit der Unterscheidung überhaupt noch operiert wird. Der funktional differenzierten Weltgesellschaft fehlt es hier zudem auch an einer zentralen Steuerungsinstanz, die sich des Problems primär annehmen könnte. Auch die Politik ist in diesem Kontext nur ein System von vielen, selbst wenn sie sich selbst in einer anderen gesellschaftlichen Rolle sehen mag (vgl. ebd.: 630).

Die Negativseite der Unterscheidung findet man vor allem in Entwicklungsländern vor. Das von Luhmann häufiger bemühte Beispiel der brasilianischen Favelas zeigt außerdem auf, wie die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft das Problem vor Ort oft sogar noch verschärft, da die Exklusion aus einem Funktionssystem auch die Exklusion aus weiteren herbeiführen oder wenigstens begünstigen kann: „Wer keine Adresse hat, kann nicht zur Schule angemeldet werden (…). Wer nicht lesen und schreiben kann, hat kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt“ (ebd.: 631). Die zahlreichen weiteren denkbaren Exklusionsdynamiken brauchen nicht näher erläutert zu werden.

Jene Dynamiken gehen mitunter so weit, dass für so manche Entwicklungs- und sicherlich auch Schwellenländer anzunehmen ist, dass dort die Unterscheidung von Inklusion / Exklusion die Codes der Funktionssysteme als Meta-Differenz überlagert, so dass es beispielsweise von letzterer abhängig ist, ob jemand überhaupt am Rechtssystem partizipieren kann, also ob zwischen Recht und Unrecht überhaupt entschieden wird (vgl. ebd.: 632). Und dies gilt „nicht nur in dem Sinne, daß Ausgeschlossene auch vom Recht ausgeschlossen sind, sondern auch in dem Sinne, daß andere, insbesondere Politik, Bürokratie und Polizei, vom Militär ganz zu schweigen, nach eigenem Ermessen entscheiden, ob sie sich ans Recht halten wollen oder nicht“ (ebd.: 632).

Inklusion in ein Funktionssystem begründet soziale Rollen und ist an diese gekoppelt. Personen als Ganzes, mit all ihrer ihnen eigenen psychosozialen Komplexität, werden in der Regel nur in Paar- bzw. Familiensysteme inkludiert, in denen das Kommunikationsmedium Liebe – und sei es nur in Form einer ehelichen Konsensfiktion – die Zurechnung einer Gesamtakzeptanz, also die Akzeptanz der gesamten Person, in all ihren Eigenheiten und damit auch all ihren sozialen Rollen generiert. In den anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen sind in der Regel nur einzelne soziale Rollen vorzufinden: Etwa die des Kunden im Wirtschaftssystem, die des Zeugen im Rechtssystem, die des Wählers im politischen System oder die des Forschers im Wissenschaftssystem (im letzteren Falle läge, im Gegensatz zu den drei zuvor genannten Beispielen, die Wahrnehmung einer Leistungsrolle des Systems vor). Insofern ergeben sich durch Inklusion stets auch Sets von daran geknüpften Rollenerwartungen, die im Rahmen dieser zu befriedigen sind. Im Rückschluss kann Exklusion somit auch als das Fehlen von eben solchen Erwartungen beschrieben werden (vgl. Stichweh 2013: 4).

Das Verhältnis von Inklusion und Exklusion kann zuweilen paradoxe Züge annehmen. Stichweh beschreibt – hier allerdings, im Gegensatz zu Luhmanns Eingrenzung auf das Gesellschaftssystem (s. o.), auf der Ebene des Organisationssystems – anhand des Beispiels des Schulverweises, im Zuge dessen deutsche Schulen verpflichtet sind, die Wiederaufnahme an einer anderen Schule mit zu kontrollieren, das Phänomen der „inkludierenden Exklusion“ (vgl. ebd.: 7f.). Überhaupt lässt sich beobachten, dass die Frage, in was eigentlich wie inkludiert werden soll, eine politisch zutiefst brisante Frage geworden ist, die mindestens in Deutschland mittlerweile jahrelange wissenschaftliche und politische Debatten im Feld der Schulpolitik provoziert hat. So wirft die Diskussion um die Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung (also jene um den „politischen“ Inklusionsbegriff) bei genauerem Blick die Frage auf, ob die Inklusion ins Bildungssystem in diesem Fall wirklich erst durch organisations- und gruppensystemische Inklusion (in Regelschulen und Regelklassen) sichergestellt werden kann, oder ob diese nicht gerade besser durch organisationale Exklusion aus Regelschulen – hin zur Inklusion in Sonder- bzw. Förderschulen – gewährleistet wurde und wird (vgl. Sander 2017: 69). Auch Stichweh widmet sich kurz dieser Frage kritisch und spricht, wohl bewusst auf so paradox erscheinende Begriffspaare zurückgreifend und die Problematik in ähnlicher Weise aufgreifend, im ersteren Fall von „exkludierender Inklusion“ und im letzteren von „inkludierender Exklusion“ (vgl. Stichweh 2013: 8f.).

Dehnt man die Unterscheidung, entgegen der oben beschriebenen Eingrenzung Luhmanns, auf verschiedene soziale System-Ebenen aus, so offenbart sich dem Beobachter eine ambivalent erscheinende Komplexität, die die scheinbare Einfachheit der Unterscheidung deutlich relativiert. Auch Stichwehs Beispiel für die Reversibilität von Exklusion, die gesellschaftliche und auch politisch-praktische Institutionalisierung einer allgemeinverbindlichen Erinnerungskultur, die das Eingeständnis der eigenen Schuld an früheren (Massen-)Exklusionen beinhaltet und sogar in der EU eine Art Beitrittsbedingung zu sein scheint (vgl. ebd.: 7), macht die Ambivalenzen der Differenz eindrücklich sichtbar.

Mindestens semantisch und normativ scheint eine totale Exklusion gerade in der modernen Gesellschaft nicht mehr vertretbar zu sein, „weil in der Gegenwart auch noch so zugespitzte Exklusionen (z.B. die lebenslange Freiheitsstrafe) auch mit Möglichkeiten einer Re-Inklusion ausgestattet werden müssen“ (Stichweh 2013: 10). Folgt man dieser Annahme, so erblickt man hierin wohl in der Tat einen entscheidenden Unterschied der funktional differenzierten (Welt-)Gesellschaft nicht nur zu segmentär differenzierten und stratifizierten Gesellschaftsformen, sondern auch – und erst recht – zu funktional entdifferenzierten oder zumindest entdifferenzierenden Gesellschaften. Freund-Feind-Unterscheidung führt als gesellschaftlich dominante Leitunterscheidung zur Vollexklusion des „Feindes“. Wo sich keine solche dominante Leitunterscheidung mehr finden lässt, da hat auch Exklusion als politisch anzustrebender Wert einen schlechteren Stand.

An diesem Punkt setzt sich auch Stichwehs Interpretation der Geltung der Unterscheidung von der Einschätzung Luhmanns ab, wie erneut das Beispiel der Favela deutlich machen soll. Diese sei kein dauerhafter Bereich der Exklusion, sondern vielmehr „ein Zentrum des Hervorbringens immer neuer und vielfach devianter Inklusionen und Vernetzungen“ (ebd.: 10). Damit werde zwar funktionale Differenzierung unterlaufen und mitunter vor Ort außer Kraft gesetzt, aber letztlich werde das von ihr Erfundene wieder in die Gesellschaft und die globalen Funktionssysteme eingespeist (vgl. ebd.: 10). Will man in diesem oder anderen beispielhaften Fällen die Frage nach der Inklusion und / oder der Exklusion hinreichend beantworten, so wird man nicht umhinkommen, zuvor die Frage nach der Inklusion in was bzw. der Exklusion aus was zu beantworten. So dürften sich Luhmann und Stichweh in diesem Punkt, hat man diese Frage erst einmal geklärt, einig sein: Die (wenn auch vielleicht nur temporäre) Exklusion aus einem oder mehreren Funktionssystemen führt zu neuen Inklusionen in lokale und regionale Gang-, Banden- oder andere Gemeinschaftsstrukturen, die sich theoretisch lose als Gruppensysteme im Sinne Tyrells (1983) bezeichnen lassen, sowie mitunter auch in delinquente Organisationssysteme (mafiaartige Strukturen), welche dann in der Tat wieder zum Thema für die Funktionssysteme und deren legale Organisationen werden, als Gegenstand der unvermeidlich resultierenden Anschlusskommunikation. In jedem Fall lässt sich festhalten, dass die Frage von Inklusion und Exklusion, mit welchem empirischen Bezugspunkt auch immer, nicht hinreichend zu beantworten ist, wenn man vorher nicht geklärt hat, welche soziale(n) System-Ebene(n) man daraufhin beobachtet – und welche nicht (vgl. Sander 2017).


Literatur

Luhmann, Niklas (2011). Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat. München: Olzog.

Luhmann, Niklas (2018). Die Gesellschaft der Gesellschaft (Bd. I & II) (10. Aufl.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Sander, Florian (2017). System-Ebenen klären, Komplexitätsreduktion vermeiden – Voraussetzungen für einen inklusiven Leistungsbegriff aus systemtheoretischer Sicht. In: Birgit Lütje-Klose et al. (Hrsg.), Leistung inklusive? Inklusion in der Leistungsgesellschaft. Band I: Menschenrechtliche, sozialtheoretische und professionsbezogene Perspektiven. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. S. 64-71.

Stichweh, Rudolf (2013). Inklusion und Exklusion in der Weltgesellschaft – Am Beispiel der Schule und des Erziehungssystems. Working Paper, 02/2013.
http://www.fiw.uni-bonn.de/demokratieforschung/personen/stichweh/pdfs/97_stw_inklusion-und-exklusion-in-der-weltgesellschaft-schule-und-erziehungssystem.pdf (letzter Zugriff: 15.10.2019)

Tyrell, Hartmann (1983). Zwischen Interaktion und Organisation I: Gruppe als Systemtyp. In: Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Gruppensoziologie: Perspektiven und Materialien. Sonderheft 25 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. S. 75-87.

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