Der Blick in den Spiegel

Wie lange kannst du noch in den Spiegel schauen und zufrieden sein mit dem, was du siehst?

Nein, ich spreche natürlich nicht von Äußerlichkeiten. Ich spreche von dem, was dahinter… stattfindet. Allein an diesem Punkt ergibt sich bereits die nächste Frage: Die nach dem richtigen Verb. Von dem, was dahinter… lauert? Wartet? Passiert? Abläuft? Lebt? Liebt? Hasst?

Was ist es, was unsere Präferenzen ausmacht, was unsere Einstellungen schärft und konkretisiert, was uns etwas oder jemanden lieben oder hassen lässt, mögen oder nicht mögen, schätzen oder verachten? Sind es frühkindlich gebildete Eigenheiten? Sozialisation? Risikokonstruktionen und Angstselektionen? Ist es unser Glücks- und Unglücksempfinden, das uns und unsere Überzeugungen prägt?

Ich las einmal irgendwo, dass Liberale laut einer Untersuchung die glücklicheren Menschen – und gerade deswegen liberal – seien. Wer glücklich ist, sehe demnach auch den Menschen und seine Mündigkeit optimistischer. Konservative hingegen seien misstrauisch gegenüber dem Menschen als solchem und kämen gewissermaßen gerade deswegen zu einer politischen Ideologie, die die Staats- und Gesellschaftsordnung in einem Sinne gestalten will, die auf einem skeptischen Menschenbild basiere.

Kann das wahr sein? Steht und fällt die ideologische Ausrichtung eines Menschen mit seinem Glücks- und Unglücksempfinden? Haben liberal oder – breiter gesprochen – freiheitlich gesinnte Menschen mehr Vertrauen in ihre Mitmenschen, weil sie glücklicher sind und sie deswegen das Glas eher als halb voll denn als halb leer betrachten?

Zugegeben: Eine terminologisch oberflächliche Debatte (sagt jetzt mein innerer soziologischer Besserwisser) – erst müsste man ja mal genauer definieren, was „freiheitlich“ genau meint, um welche Freiheiten es überhaupt geht. Objektiv betrachtet sind auch die massiven politischen Auseinandersetzungen in den USA zwischen Demokraten und Republikanern, die in Europa ihre Entsprechungen haben, kein Kampf „Freiheitliche versus Gegner der Freiheit“ – das wäre eine subjektive politische Verkürzung, eine Beobachtung erster Ordnung, wie Luhmann sagen würde.

Beobachten wir lieber in zweiter Ordnung, also aus der Vogelperspektive: Es geht eher um einen Kampf verschiedener Freiheitsverständnisse. Demokraten stellen gesellschaftspolitisch die Freiheit von Minderheiten und Einwanderern in den Mittelpunkt, Republikaner die der Mehrheit der Bevölkerung und der Einheimischen. Keine Seite meint von sich ernsthaft, „gegen Freiheit“ zu sein – auch hier in Europa und in Deutschland nicht. Fair wäre, erst einmal jedem und jeder diesen guten Willen zuzugestehen, egal welcher politischen Couleur.

Aus Sicht vieler macht mich das vermutlich wahlweise zum Naivling (rechte Leser dieser Zeilen) oder zum Heuchler (linke Leser dieser Zeilen). Einspruch: Ich bin weder das eine noch das andere. Ich weigere mich bloß, in plumpen, dualistischen und unterkomplexen Gut-Böse-Kategorien zu denken. Ich kann das nicht. Ich will das nicht. Ich bin so nicht. Und wenn politische Gegner oder politische Freunde diesen Dualismus noch so oft in ihre Rhetorik einbauen und vermutlich selbst daran glauben (da ist es wieder, mein „naives“ Grundvertrauen in die Authentizität der Leute) – ich glaube: Menschen sind unterschiedlich. Manche sind komplex. Manche weniger. Doch eines sind sie nicht: Alle gleich.

Wenn mir eines in Jahrzehnten der aktiven Politik und der Arbeit als Politologe und Soziologe klargeworden ist, dann, wie sehr politische Kommunikation (eigentlich fast nur) über Zuschreibungen und Zurechnungen funktioniert. Pausenlos gehen wir davon aus, dass der politische Freund oder der politische Feind (egal) „so“ oder „so“ sei. Wir gut, die böse. Wir schlau, die doof. Wir durchschauen die Sache, die anderen nicht, und wenn doch, vertuschen / lügen / heucheln die anderen. Politik in postdemokratischen Mediengesellschaften wie unserer ist eigentlich kaum noch etwas anderes als wechselseitige Unterstellungen in der jeweiligen Hoffnung, das politische Publikum möge etwas davon (ebenfalls) glauben bzw. nicht glauben.

Jeder, der ansatzweise die Komplexität von Systemen (auf allen sozialen Ebenen: Psyche, Gruppe, Organisation, Gesellschaft) anzuerkennen bereit ist, müsste eigentlich zu akzeptieren gewillt sein, dass es so einfach nicht sein kann. So ist die Gesellschaft einfach nicht. So sind Organisationen und Gruppen nicht. Und so ist der Mensch eben auch nicht. Die meisten von uns sind auf irgendeine Art vielschichtig, also: komplex und kontingent, d. h. wechselhaft im Handeln und von verschiedensten, unterschiedlichen Motiven bzw. Umweltreizen geprägt.

Der Haken: Als politischer Akteur eignet sich nur, wer eben diese Komplexität ignoriert und in seine Rhetorik auf die unterkomplexen Dualismen und Dichotomien („wir gegen die“ usw.) fußen lässt, von denen ich oben schrieb. Wer mehr differenziert, wer tatsächlich nicht nur Gut und Böse sieht, wer nicht nur Schwarz und Weiß unterscheidet, sondern auf Grautöne verweist, wer Gruppendynamiken in bzw. durch Parteien nicht blind folgt, sondern sich je nach Thema und Frage eigene Gedanken macht, der geht in der politischen Kommunikation unter, weil er Komplexitäten kommuniziert, die im Systemcode wenig anschlussfähig sind. Man könnte auch sagen: Wer intelligent, nachdenklich und bedächtig kommuniziert, wird ignoriert oder geht unter. Skeptisch darf man in der Politik immer nur „den anderen“ gegenüber sein. Wer gegenüber dem eigenen Lager Skepsis kommuniziert, der stößt in Zeiten aufgeheizter gesellschaftlicher Spaltung, in der beide Seiten mit Mobilisieren und Scharfmachen beschäftigt sind, nur noch auf Stirnrunzeln und Ignoranz.

Man könnte jetzt gewillt sein zu fragen, wo sich denn nun jemand verortet, der diese Erkenntnis kommuniziert hat – eine Erkenntnis, die nicht unbedingt zufrieden stellt, nicht wahr? Jedenfalls nicht jene, die noch ein komplexitätsoffenes Gewissen haben in dem Sinne, dass sie sich weigern, sich stumpfen Gut-Böse-Dichotomien zu unterwerfen, selbst um den Preis eigener kommunikativer Anschlussfähigkeit (und Karriereaussichten) im politischen System. Nein, zufrieden stellt sie mich nicht. Aber: Ich bin und bleibe ein glücklicher und insgesamt dennoch zufriedener Mensch. Jedenfalls, solange ich unbeschwert in den Spiegel schauen kann.

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