Einheit versus Unterscheidung? Zum Verhältnis von Unitarismus und Carl Schmitts Begriff des Politischen

Vortrag bei der Herbsttagung des Bundes Deutscher Unitarier am 17.10.2020

Ralf Kaisers heutiger Vortrag widmete sich dem Verhältnis von „Unitarismus und Dualismus“ – hier kann man sogleich die Frage stellen: Ist dieses Begriffspaar gleichbedeutend mit der (echten oder vermeintlichen) Dichotomie von „Einheit versus Unterscheidung“? Ist das das gleiche? Oder was meint das überhaupt? Und wieso drückt sich hierin ein Problem aus?

Den Begriff der Einheit muss man nicht allzu lange erklären: Als Unitarier sind wir alle mit der Vorstellung der Unitas, der All-Einheit, vertraut und sehen ihr eine Manifestation des Göttlichen, was uns von anderen „Theismen“ abgrenzt. Doch was ist mit der Unterscheidung (man könnte auch sagen: Differenz) gemeint? Und wieso ist sie so wichtig für unser Leben? Ist sie gleichbedeutend mit Dualismus oder etwas ganz anderes?

Und überhaupt: Was hat eigentlich Carl Schmitt damit zu tun, der ja vieles war, aber kein unitarischer Religionsphilosoph? Wieso ist auch er mit seinem Denken und Werk so wichtig für uns? Und wieso geht es hier, in einer Sphäre des Geistigen, des Glaubens und der Religion, eigentlich um seinen „Begriff des Politischen“? Schließlich sollen wir doch hier keine Politik treiben!

Problemaufriss und Begriffsklärung

Zeitdiagnostisch und soziologisch kann man sagen: Wir leben eher in einer Zeit der Diffusion, welche das Zeitalter der Postmoderne kennzeichnet: Grenzen verschwimmen, lösen sich auf. Und damit meine ich nicht nur nationale Grenzen, die den Massen aus anderen Kontinenten geöffnet werden und die Grenzen, die im Zuge der Globalisierung weggebrochen sind (jedenfalls bis Corona und voraussichtlich danach wieder), sondern auch die weniger sichtbaren Grenzen. Was meine ich damit?

Auch sittliche Grenzen brechen weg: Von ungehemmter Sexualisierung und Gewaltdarstellung in alten und neuen Medien bis hin zur Frühsexualisierung von Kindern im Unterricht und, natürlich, ganz prominent: Den Geschlechtergrenzen. Die Gender-Ideologie führt zum Verschwimmen der alten, eigentlich biologisch determinierten Grenzen zwischen den klar abgrenzbaren Geschlechtern Mann und Frau, es soll plötzlich zahlreiche zusätzliche Geschlechter geben, die man sich individuell aussuchen kann.

Das Ganze geht weiter bei der Berufswahl: Alles soll für alle möglich sein. Jeder soll Abitur machen. Jeder soll integriert und inkludiert werden in eine obskure, hyperindividualisierte Gesellschaft, die sich selbst nicht mehr kennt. Diese wird seit Jahrzehnten bereits amerikanisiert und dadurch atomisiert, das Individuum steht über kollektiven Identitäten wie Familie, Volk, Nation, Religion; kann sich seine Identität beliebig zusammenbasteln, versucht verzweifelt, sich auf sozialen Medien wie Instagram als „individuell“ von allen anderen abzugrenzen.

Die beständige Diffusion und fortschreitende Individualisierung, die Reduzierung des Menschen auf sich selbst, führen zu einem Wegbrechen von kollektiver Identität. Und da sind wir auch schon beim Problem angekommen: Denn Identität gibt es nur über Unterscheidung, über Differenz!

Die Herausbildung der Identität im Zuge der Sozialisation erfolgt, wenn man zwischen „sich“ und „den anderen“ unterscheiden kann. Wenn man die unterschiedliche Bedeutung der Worte „du“ und „ich“ bzw. „ihr“ und „wir“ verstanden hat. Man weiß, wer und was man ist, wenn man weiß, wer und was man nicht ist.

Identität entsteht durch Differenz, und das Wegbrechen von Differenz, von Grenzen, führt zur Auflösung von Identitäten. Ein Problem, an dem wir, unser Land, unser Volk, unsere Gesellschaft immer mehr leidet und durch die sie immer mehr die Eigenschaft einer Gemeinschaft (!) verliert.

Dieser Punkt leitet über zu Carl Schmitt.

Schmitts Begriff des Politischen und seine Bedeutung für die Deutschen Unitarier

An dieser Stelle kommen wir wieder auf die Frage „Religion versus Politik“ zurück, die ich anfangs aufgeworfen habe: Geht es hier nun etwa um Politik? Was soll das? Oder kommt nun gleich die Klischeeaussage, dass doch irgendwie „alles politisch“ sei?

Meine Antwort geht nochmal in eine andere Richtung. Denn zunächst muss man „das Politische“ von der „Politik“ differenzieren. Politik bezeichnet das Tagesgeschäft. Das, was Sie tagtäglich in den Nachrichten sehen und lesen. Prozedurale Abläufe: Debatten, Diskurse, Reden, Positionierungen, Abstimmungen, bis hin zum Gesetzgebungsprozess – ab da wird es dann „Verwaltung“, Exekution, Gesetzesvollzug; die andere Dimension politischer Abläufe.

Das Politische im Sinne Schmitts ist jedoch viel mehr, ein Überbegriff für eine bestimmte Art des Unterscheidens zwischen zwei Elementen, was dadurch konstituierend für die Gemeinschaft ist. Für Schmitt das ist das Politische gleichbedeutend mit der Unterscheidung von Freund und Feind. Das hat erst einmal einen ziemlich martialischen Klang, welcher aber, wie wir herausfinden werden, eigentlich weit weniger martialisch und „grausam“ ist als andere Unterscheidungen.

Schmitt sagt, das Politische – und seine organisationale Konkretisierung: der Staat – unterscheidet zwischen Freund und Feind und bewahrt dadurch die Gemeinschaft. In etwas weiterem Sinne könnte man auch von der Unterscheidung vom Eigenen und Fremden sprechen, von „sich“ und „den anderen“. Erst dies konstituiert und bewahrt kollektive Identität, da es eine Diffusion, ein Verschwinden der Grenzen verhindert. Unser postmodernes Zeitalter, das vom Liberalismus geprägt ist, ist für Schmitt daher gleichbedeutend mit „Entpolitisierung“, mit dem Verschwinden des Politischen, oft zugunsten anderer Unterscheidungen, z. B. dem Ökonomischen. Im globalisierten Turbokapitalismus geht es eher um Gewinn und Verlust; Identitäten, Völker, Nationalstaaten sind eher störend auf dem Weg zur globalen Konsumgesellschaft.

Schmitt wurde dadurch schon Mitte der 20er Jahre zu einem der wichtigsten Liberalismus- und Modernisierungskritiker, eingereiht in verschiedene Akteure der sogenannten Konservativen Revolution, die allesamt auf intellektuell beeindruckende Weise diese Grundhaltung in Worte fassten und artikulierten.

Das Politische ist Schmitt zufolge diejenige gesellschaftliche Sphäre, die geeignet ist, im sogenannten Ausnahmezustand alle anderen Sphären zu verdrängen: Wenn zwischen Freund und Feind unterschieden wird, ist alles andere zweitrangig. Da wo Krieg geführt wird, ist zweitrangig, wie schön ein Gemälde ist oder ob ein Betrieb Verluste erleidet, weil plötzlich die Produktion auf Rüstungsgüter umgestellt werden muss: Es geht um Leben und Tod. Das Politische ist insofern auch ein Schutzmechanismus für den Ernstfall. Wir sehen das manifestiert in den staatlichen Organisationen Militär und Polizei.

Gefährlich wird es, wenn das Politische mit Moral aufgeladen wird, also wenn der Freund nicht mehr nur der Freund, sondern „gut“, und der Feind nicht mehr nur der Feind, sondern „böse“ ist. Ab dem Moment wird der Feind nämlich nicht mehr nur bekämpft, sondern es geht plötzlich darum, ihn zu vernichten, auszulöschen. Die Moralisierung des Politischen ist die eigentliche Gefahr.

Dieses Phänomen sehen wir außenpolitisch manifestiert in sogenannten „humanitären Kriegen“, innenpolitisch in den aktuell stattfindenden Ausgrenzungen Andersdenkenden gegenüber, die eben nicht nur einfach politische Gegner sind, sondern das Böse schlechthin, das kein Existenzrecht hat und dadurch allerlei Repressalien rechtfertigt. Schmitt sagte: „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“ Anders gesagt: Wer moralisiert, will sich selbst ins gute Licht rücken.

Hier kommt dann im Übrigen auch der Dualismus des monotheistischen Denkens zum Vorschein: Gut und Böse, Jenseits und Diesseits. Wir merken also: Der Dualismus als das Phänomen, von dem wir uns abgrenzen (!), ist nicht gleichbedeutend mit der Unterscheidung nach Schmitt, sondern etwas grundlegend anderes.

Man merkt somit auch: Für jeden identitätsbewussten Menschen, zu denen wir Deutschen Unitarier europäischen Geistes uns ja dem Namen nach in gleich zweifacher Hinsicht zählen, ist das Schmittsche Denken unerlässlich – selbst dann, wenn man mit der aktuellen Tagespolitik eigentlich nicht allzu viel am Hut hat.

Auch wir Unitarier sind, obwohl wir uns nicht „politisch betätigen“, im besten Schmittschen Sinne politisch, denn wir kennen unsere volkliche, kulturelle und kontinentale Identität, wir versuchen sie zu schützen, zu bewahren, und sehen sie in einem direkten Zusammenhang mit unserer Religiosität. Wir unterscheiden zwischen Freund und Feind im Sinne eines Eigenen und eines Fremden, wir wissen, wer zu uns gehört und wer nicht.

Wir stellen uns damit gegen den Universalismus der monotheistischen Religionen, die die religiöse Hintergrundfolie bilden für die heute so üblich gewordene Vorstellung des Globalismus, man könne einen Weltstaat, eine Weltgesellschaft, die „Eine Welt“, die geeinte Menschheit schaffen. Dies wäre gemäß Schmitt die vollendete Entpolitisierung, denn eine solche Menschheit kann sich nicht unterscheiden, jedenfalls solange keine Aliens auf der Erde erscheinen, und wäre somit kein politisches Subjekt.

Wir hingegen sagen: Unsere Religion ist an unsere volkliche und kulturelle Identität gekoppelt – und damit letztlich an eine durch und durch politische Einheit, ja sogar die wichtigste überhaupt, die dem Ursprung nach den Nationalstaat in seinem Bestehen legitimiert. Wir sehen: Wir alle sind – bewusste oder unbewusste – „Schmittianer“, unvermeidlich!

Schmitts Unterscheidungsdenken und der Unitarismus

Doch, und nun kommen wir zur entscheidenden Grundfrage dieses Vortrags, kollidiert ein solches notwendiges politisches Denken in Unterscheidungen, in Differenzierungen, in identitären Abgrenzungen nicht mit dem unitarischen Grundgedanken, der auf eine All-Einheit abstellt? Ist das nicht ein Widerspruch in sich?

Ich meine: Nein, denn mit Luhmann gesprochen handelt es sich bei der Unitas um die „Einheit der Unterscheidung“ bzw., mit Alain de Benoist, die „Einheit der Gegensätze“. Das Göttliche zeigt sich in eben jener Pluralität, die auch in den antiken polytheistischen Gottheiten zum Ausdruck kam. Benoist schreibt, inspiriert durch Sigrid Hunke, in seinem Buch „Heide sein“: „Das Aufkommen der Gegensätze in der göttlichen Einheit (…) bezwingt den Dualismus“ (S. 274).

Im antiken Heidentum war es üblich, dass die „Götter gegeneinander kämpfen“, wie Max Weber anmerkte. Dem Göttlichen, der All-Einheit ist ein Pluriversum inhärent! Die Welt besteht aus vielfältigen Sphären, Kulturen, Völkern, Unter-Einheiten. Diese arbeiten zusammen und grenzen sich voneinander ab, wetteifern miteinander, übertreffen einander; die einen gehen unter, die anderen steigen auf. De Benoist: „Göttlich ist das, worin die Gegensätze zusammen bestehen“ (S. 275).

In der unitarischen Pluralität, im Ethnopluralismus, in der Vielfalt der wetteifernden Gegensätze erkennen wir das allzu übliche Charakteristikum von allem wieder, was natürlich ist. Die Natur zeichnet sich genau dadurch aus, genau daraus besteht das, was wir Leben nennen: Im stetigen Fortschreiten, in der Evolution, im Mit-, aber auch Gegeneinander – nicht aber in der homogenisierten, grau-in-grauen Stagnation einer nicht mehr differenzierten Weltgesellschaft, die zu einer seelenlosen, übersättigten und müde gewordenen Konsummasse degradiert worden ist.

De Benoist zitiert Nietzsche auf S. 283 seines Buches: „Was ist gut? Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? – Alles, was aus der Schwäche stammt. Was ist ihr Glück? – Das Gefühl davon, daß die Macht wächst – daß ein Widerstand überwunden wird.“

Dieses Nietzsche-Zitat ist nicht nur Philosophie, sondern auch kluge Psychologie! Des Menschen Glück ergibt sich in der Tat niemals durch eben jene übersättigte, in der Diffusion paralysierte Stagnation, sondern stets durch das Gefühl und das Wissen, einen äußeren oder inneren Widerstand überwunden zu haben. Genau dies ist Evolution, genau dies bedeutet blühendes Leben anstatt schlichter, vegetierender Existenz!

Ich möchte dieses einmal anhand einer persönlichen Anekdote illustrieren. Ich wohne seit Jahren schon in einer Wohnung, die, wenn man von der U-Bahn her kommt, für mich nur über das Hochfahren einer längeren Steigung zu erreichen ist. Sie können sich vorstellen, wie anstrengend das anfangs ist, wenn man frisch im Rollstuhl sitzt und noch recht untrainiert ist. Anfangs musste ich beim Hochfahren immer wieder Pausen einlegen. Aber wie das eben so ist, wenn man (freiwillig oder halt gezwungenermaßen) an seiner Kondition arbeiten muss: Die Pausen kamen immer etwas später und wurden immer kürzer. Eines Tages war ich plötzlich oben angekommen – und bemerkte, dass gar keine Pause mehr nötig gewesen ist. Was glauben Sie, was das für ein Glücksgefühl war – ein Glücksgefühl übrigens, das ich nie gehabt hätte, wenn ich einfach, wie mir öfter schon von Leuten beiläufig geraten wurde, ganz bequem einen Elektrorollstuhl nutzen würde. Ich hätte nie diesen äußeren und inneren Widerstand überwinden müssen und hätte nie das Gefühl gekostet, das sich daraus ergab. Ich hätte vegetiert und nicht gelebt. Das ist es, was Nietzsche meinte! Es lohnt sich, sich Herausforderungen zu stellen.

Konklusion 
 
In diesem Sinne können wir sagen: Wir Unitarier sind Teil und auch Verteidiger einer politischen Identität, ebenso wie wir Teile eines größeren Ganzen sind, innerhalb derer wir uns jeden Tag aufs Neue zu bewähren trachten. Erst damit werden wir dem Anspruch gerecht, unseren Teil zum göttlichen All-Einen beigetragen zu haben, und gerade dadurch unterscheiden wir uns von religiösen Universalisten und politischen Globalisten.

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