Intensivierung durch Kontrast


Seit dem 27. April gilt im öffentlichen Nahverkehr in Nordrhein-Westfalen die Mund- und Nasenschutz-Pflicht. Einen Tag später war ich mal wieder mit dem ÖPNV unterwegs, erstmalig mit einer eigenen Schutzmaske auf. Circa 45 Minuten dauert die gesamte Fahrt, inklusive Wartezeiten und Umsteigen. Ich fahre in einen Außenbezirk Bielefelds. In der U-Bahn kommt in mir bereits der Soziologe hervor: Ich registriere veränderte Mehrheitsverhältnisse. Natürlich nicht demografisch oder ethnisch, sondern hinsichtlich der Frage, wer eine Schutzmaske trägt und wer nicht. Diejenigen, die keine Maske tragen, sind zu einer winzigen Minderheit geworden, und man merkt: Nun sind sie es, die einem (wenn auch nicht verbal artikulierten) Rechtfertigungsdruck unterliegen. 

Während in den Wochen davor noch die freiwilligen Maskenträger etwas seltsam und manchmal gar amüsiert beäugt wurden, sind es nun die mit dem blanken Gesicht, die manchmal mit dem moralinsauren Kopfschütteln der braven Bürger bedacht werden. Unweigerlich kommt einem eine Szene aus Loriots „Ödipussi“ in den Sinn: Darin schüttelt in einer Kneipe ein wohlsituierter Bürger im Anzug und mit todernstem Gesicht empört den Kopf über ein Mädchen im Punk-Outfit (mit der Bemerkung „Früher hätte sowas hier gar nicht sitzen dürfen!“) – während er selbst eine Clownsnase im Gesicht trägt.

Nun, diese Dynamiken waren erwartbar und überraschen mich wenig, obgleich sie natürlich interessant zu beobachten sind. Auch ich selbst registriere leicht veränderte soziale Konstellationen: Als langhaariger Mittdreißiger im Rollstuhl werde ich grundsätzlich viel mit Blicken beäugt, egal, was ich mache, sage oder tue. Noch mehr wird es allerdings, wenn ich die Haare offen trage. Und, wie ich jetzt merke: Wenn ich eine dunkle Schutzmaske trage. Warum? Keine Ahnung. Ist mir auch egal.

Eine andere Erfahrung beeindruckt mich mehr. Sie tritt erst ein, als die Fahrt endet. Die Stadtbahn setzt mich am frühen Abend an einer Haltestelle ab, die sich in einem sehr naturgrünen Wohngebiet befindet. Da sich das Ganze Ende April abspielte, als der Shutdown noch so richtig im Gange war, ist hier nichts und niemand außer mir zu sehen. Eine für diese, sonst recht frequentierte Haltestelle recht ungewöhnliche Erfahrung: Ich höre Vögel zwitschern!

Doch nicht nur das. Als ich den Haltestellenbereich verlassen habe, nehme ich die Schutzmaske ab. Und ich realisiere, was meinen Sinnen zuvor verwehrt blieb, während ich über 45 Minuten hinweg den leicht sterilen Plastikgeruch der Maske eingeatmet habe, der mich an jeglichen anderen Geruchseindrücken hinderte. Es regnet ganz leicht; durch die Stille hörte ich zuvor schon, neben dem Vogelzwitschern, das ganz leise Geräusch leichten Nieselns auf mittlerweile wieder üppiger und grüner gewordene Bäume. Jetzt, wo ich die Maske absetze, spüre ich einen Geruchseindruck, den ich so, an dieser Stelle, an diesem Ort, bisher nie gehabt habe: Den typischen Geruch des Sommerregens. Schlagartig dringt er mir in die Nase und verdrängt all das Sterile, Plastikartige, Synthetische. Welch eine herrliche Wahrnehmung; dies in Kombination mit diesem leisen Nieselgeräusch und dem Zwitschern von Wesen, die gar nicht ahnen, was sich da in dieser seltsamen Menschenwelt derweil so abspielt. Und all das: In völliger Einsamkeit, ohne einen Menschen um mich herum. Werktags, am frühen Abend.

Und plötzlich realisiere ich die Aussagekraft dieser Erfahrung. Ist es vielleicht das, was wir, trotz all des wirtschaftlichen Schadens, den der Shutdown angerichtet hat, wenigstens für uns persönlich, aber auch als Gemeinschaft von Menschen für uns mitnehmen können? Die neu, oder besser: zurückgewonnene Wertschätzung für etwas, was vorher als selbstverständlich wahrgenommen worden war? Seien es soziale Kontakte, Berührungen, gemeinsame Aktivitäten, familiäres Zusammenleben – oder jetzt eben auch Sinneseindrücke, die die Schutzmaske zuvor von einem abhielt und die dafür umso intensiver sind, wenn man sie abnimmt und den Kontrast spürt?

Als religiöser Mensch versuche ich in allem, was mir begegnet und passiert, irgendeinen Sinn auszumachen – ganz bewusst auch in dem, was ich politisch verurteile. Manche wichtigen gesellschaftlichen Veränderungen ergeben sich erst über die Gegenbewegung, über das Contra, über den Kontrast. Indem uns allen oder auch uns ganz individuell etwas Negatives widerfährt, ziehen wir etwas Positives daraus und machen es zu einer neuen, vergessen geglaubten Stärke. So auch in diesem Fall: Wir finden gesellschaftlich wieder zueinander, wir erkennen die Wichtigkeit des Nationalstaates, wir sehen die Gefahren der Globalisierung klarer vor uns. Und wir nehmen plötzlich wieder etwas wahr, was zuvor womöglich völlig an uns vorbeigegangen wäre, in all der Hektik, der Beschleunigung, dem Stress, der Postmodernität. Wir leben nicht mehr nur in der Natur – wir erleben sie wieder. Für mich: Ein irgendwie beruhigendes Fazit. Alles, wirklich alles, hat irgendwo auch seine guten Seiten.

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