Was ist „wahre Liebe“?

Liebe ist insbesondere ein modernes Phänomen. Oh, sicher: Entsprechende, auch biochemisch determinierte Gefühlslagen waren bei Menschen stets präsent. Der Eigenwert der Liebe jedoch, der die Heiratsmotivation durch etwa politische oder wirtschaftliche Zweckbündnisse von Familien in Europa vor wenigen Jahrhunderten abgelöst hat – nicht zuletzt ausgelöst durch die Innovation des Buchdrucks, welcher die breiten Massen über entsprechende Literatur erstmals mit dem Konzept romantischer Liebe bekannt machte – ist eine Erfindung der Neuzeit, wie die Bielefelder Soziologin Barbara Kuchler zu Recht sagt. Erstmal gedieh dadurch die Institution der Heirat aus Liebe – motiviert durch nichts anderes als das. Heutzutage ist es, jedenfalls in unseren Breitengraden, mindestens erklärungsbedürftig bis schlechthin sozial inakzeptabel, wenn zwei Menschen aus anderen Gründen als Liebe heiraten.

Ein Produkt der Unterhaltungsindustrie

Die nächste Stufe der Entwicklung wartete im 20. Jahrhundert und setzte in Europa besonders ab dessen Mitte ein: Die Idealisierung des Konzeptes romantischer Liebe, welche diese über die mächtigen Kanäle der vor allem auch amerikanischen Unterhaltungsindustrie nicht nur, wie zuvor der Buchdruck, ausbreitete, sondern sie zum gesellschaftlichen Grundwert erhob, dessen normativen Erwartungen man sich kaum noch entziehen kann. Kaum zu ermessen – und den dortigen Akteuren vermutlich selbst kaum bewusst – ist in diesem Kontext etwa die Macht des Disney-Konzerns, mit dessen Botschaften über romantische Liebe wir, jedenfalls im Westen, bereits als (Klein-)Kinder konfrontiert wurden und aufgewachsen sind.

Romantische Liebe wurde nun also nicht mehr nur über jene Unterhaltungsindustrie kommuniziert, mit der man als Erwachsener in Kontakt kam – wie es noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts üblich war – sondern sogar über die, die Kinder rezipieren. Wer weiß, wie empfänglich wir besonders in der frühkindlichen Sozialisation für die Internalisierung gesellschaftlicher Institutionen sind (welche dann, psychoanalytisch gesprochen, in der Folge zu unserem Über-Ich werden), der kann sich vorstellen, wie stark uns diese Einflüsse prägen. Gleich den uralten, inneren Ringen eines Baumes prägen sie unsere Existenz und das, was wir vom Leben erwarten, grundlegend und lassen uns nie mehr wirklich los. Und wenn, dann nur unter aller größten Bemühungen der Selbstreflexion – oder der Enttäuschung.

Enttäuschung vorprogrammiert

Enttäuschung ist hierbei das nächste wichtige Stichwort. Denn diese wird stets dann zur Regel, wenn zuvor die Erwartungen besonders hoch waren. Und dies gilt erst einmal für alle psychosozialen Zusammenhänge, auch die banalster Art. Habe ich an den Kuchen zum nachmittäglichen Kaffee-Trinken hohe Erwartungen, fällt die Enttäuschung umso größer aus, wenn er staubtrocken und wenig wohlschmeckend ist. Bei der Liebe ist es nicht anders.

Die kulturelle Entwicklung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat unsere Erwartungen an die Liebe massiv in die Höhe schießen lassen. Wer pausenlos – sei es über Disney, über „erwachsene“ Hollywood-Filme, über Fernsehen, über das Thema jedes zweiten Musik-Stücks, über die Stilmittel der Werbung (Dr.-Oetker-Pizza im romantischen Kerzenschein etc.), über Angebote und Links im Internet usw. usf. – mit der Dauererwartung der lebenslangen, perfekten, märchenartigen Liebe à la „Pretty Woman“ (übrigens eine Disney-Produktion!) konfrontiert wird, der macht dies zum Teil der Erwartungen und Hoffnungen seines eigenen Lebens, bei denen es dann um nicht weniger geht als die absolute Perfektion der Zweisamkeit.

Ein Ideal, was äußerst schnell enttäuscht werden kann, weil es extrem störanfällig ist. Spätestens nachdem das erste halbe Jahr einer Beziehung – die „Schmetterlingsphase“ – beendet ist, stellt man die ersten Probleme fest: Der Partner ist ja gar nicht so perfekt wie im Film. Bereits hier beginnt das Ideal zu bröckeln. Spätestens nach den obligatorischen, hormonell bedingten drei bis vier Jahren beginnt dann die erste Feuerprobe: Arbeitet man an sich und der Beziehung? Oder wirft man das Handtuch? Hier ist nun entscheidend, wie gut die Emanzipation von den meist schon frühkindlich verinnerlichten „Disney-Idealen“ gelungen ist. Ist sie nicht oder nur schlecht gelungen, ist zu erwarten, dass weitere Enttäuschungen folgen werden, weil man ein Ideal sucht, das nur in den seltensten Fällen erreicht werden kann.

Doch – um nun endlich zur Ausgangsfrage dieses Textes zu kommen – ist damit also nur dieser äußerst seltene, perfekte Idealzustand gleichbedeutend mit „wahrer Liebe“? Die Antwort kann schon jetzt erfolgen: Nein!

Liebe ist totalitär

Gelungene Liebe im Sinne einer systemtheoretischen Konzeptualisierung bedeutet vor allem die Akzeptanz des anderen psychischen Systems (also des Partners) in all seiner sozialen Komplexität. Das Liebessystem verlangt den Personen, die es umfasst, eine auch soziologisch gesehen ganz besondere Leistung ab: Der oder die andere muss nicht nur, wie in nahezu allen anderen sozialen Systemen der Fall, in einer oder wenigen sozialen Rollen (z. B. als Patient, als Angestellter, als Wähler o. ä.) akzeptiert werden, sondern in allen, die dieser inne hat. Liebe ist ein „totalitäres System“, das seine psychischen Teilsysteme „mit Haut und Haar verschlingt“. Wer seinen Partner liebt, kann vor diesem etwa schwerlich Geheimnisse haben – und wenn, dann ist dies zumindest besonders erklärungs- und rechtfertigungsbedürftig.

Liebe ist zudem – in der modernen Gesellschaft (s. o.) – autopoietisch: Liebessysteme können immer nur auf Liebe Bezug nehmen und auf nichts anderes. Wer sich in eine Beziehung oder gar in eine Ehe begibt, darf dies, zumindest öffentlich und auch nur sehr selten gegenüber dem Partner, nicht mit einer politischen, rechtlichen oder finanziellen Notlage rechtfertigen. Auch die äußerliche Ästhetik des Partners darf in der Regel niemals als einziger Grund für die Beziehung herhalten. Liebe ergibt sich ausschließlich aus Liebe. Damit ist sie selbstreferenziell, also auf sich selbst Bezug nehmend.

Liebe als Konsensfiktion

Ein weiterer Aspekt, der die Liebe im systemtheoretischen Sinne definiert, ist der der Konsensfiktion. (Etablierte) Liebe – also jene nach der Schmetterlingsphase – bedeutet, schon im Vorhinein zu wissen, was der oder die andere sich wünscht, ohne dass dieser es aussprechen muss. Oder zu glauben, genau dies zu wissen, und mit diesem Glauben bei dem oder der anderen auf Akzeptanz zu stoßen, selbst wenn es de facto manchmal nicht so sein mag. Die Wahrscheinlichkeit, dass es so ist, erhöht sich allerdings mit dem Alter der Beziehung und damit mit der Etablierung von Routinen im Liebessystem, die dessen Interaktionen mit Erwartbarkeit ausstatten. Irgendwann weiß man eben, dass der Partner nur Bioprodukte konsumiert. Und kauft dann entsprechend ein. Die Herausforderung an dem Punkt ist dann, die Routinen konstruktiv zu nutzen und sie nicht zur Langeweile mutieren zu lassen. Passiert letzteres, so vermag manchmal nur eine mehr oder weniger gezielt herbeigeführte Krise (definiert als „Unterbrechung der Routine“) die Beziehung zu retten: Drama, Baby!

Liebe bedeutet insofern nicht, „niemals um Verzeihung bitten zu müssen“ ("Love Story" – auch so ein Schlüsselwerk der Liebesideal-Produktion!), sondern genau zu wissen, wann man das tun muss – und wann die Entschuldigungsäußerung noch verfrüht wäre bzw. wann sie zu spät käme. Die Routine vermag hierbei zu helfen. Zugleich muss dabei natürlich auch der Wert der Authentizität in ausreichendem Maße bedient werden. Die eigenen Handlungen müssen auch deswegen routiniert sein, damit sie vom anderen nicht als zu strategisch wahrgenommen werden, wodurch sie an Glaubwürdigkeit verlieren. Liebe bedeutet insofern auch zugerechnete Natürlichkeit. Alles andere wäre verdächtig: Wer den Partner zu oft zum Essen ausführt, hat bereits heimlich einen anderen.

Es ist an sich bereits problematisch, einen allgemein gültigen, kollektiv verbindlichen Indikator für „wahre Liebe“ aufstellen zu wollen. Mit Blick auf die biochemischen Prozesse, die unser Gefühlsleben entscheidend mit steuern, dürfte dies schon mal schwerlich möglich sein, zumal hier auch die dann nötige Abgrenzung zur rein sexuellen Anziehung schwierig sein dürfte. Dies scheidet als Kriterium also schon mal aus. Ebenso ausscheiden tun rein psychische Kriterien eines „guten Gefühls“ bei einer Beziehung, da diese durchaus auch einseitig sein können (was dann z. B. auf ein parasitäres Liebessystem mit der Beteiligung etwa von Narzisstischer Persönlichkeitsstörung o. ä. hindeuten kann).

Routine als Grundlage

Es braucht also immer auch die mikrosoziologische Perspektive, die das soziale System der Liebe ganzheitlich betrachtet und die Kriterien umfasst, die oben dargestellt wurden. Das Kriterium der Systemsteuerung durch Routine zeigt in diesem Kontext auf, dass Liebe eben noch nicht vorliegt, wenn die Schmetterlinge fliegen – dies ist dann eben nur „Verliebtheit“ oder, noch unverbindlicher, „Verknallt-Sein“. Erst die Routine schafft die Etablierung der Konsensfiktion, im Zuge derer sich das Selbstverständnis als „Paar“ etabliert und verfestigt. Erst dann kann das Hauptkriterium der Liebe wirklich gewährleistet werden, nämlich die Akzeptanz der Gesamtheit der sozialen Komplexität des Partnersystems. 

Will man sich dies plastischer vor Augen führen, so denke man etwa an die wichtige Rolle, die auch das gegenseitige Vertrauen inne hat, welches es erst ermöglicht, etwa Geheimnisse mit dem Partner zu teilen, welches aber in Gänze eben erst mit der o. g. Routine einzusetzen vermag. Ist diese System-Routine etabliert (was in den meisten Fällen auch „Beziehungsarbeit“ erfordert, spätestens wenn die Schmetterlingsphase überwunden ist), besteht Vertrauen und damit die Basis für die wechselseitige Komplexitätsakzeptanz. Ab diesem Punkt ist es möglich, von „wahrer Liebe“ zu sprechen. Ob diese dann ein Leben lang dem Disney-Erwartungsdruck standhält, ist freilich eine andere Frage.

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