Können sich Menschen ändern?


Die Frage, ob der Mensch imstande ist, sich zu ändern, ist eine, die oftmals mit der Dichotomie von Optimismus und Pessimismus konnotiert wird: Wer glaubt, dass sich Menschen ändern können, gilt als Optimist, wer dies nicht so sieht als Pessimist (berühmtester Vertreter der letzteren Gattung ist gemeinhin die US-Serienfigur Dr. House mit seinem gleichlautenden Motto „Menschen ändern sich nicht!“). Doch was ist realistisch?

Tatsächlich geht es hier weniger um eine Frage von Optimismus vs. Pessimismus, sondern um die Frage von Komplexität vs. Unterkomplexität. Denn vom sozialpsychologischen Standpunkt aus gesehen ist der Gedanke, sich hier nur zwischen „ja“ oder „nein“ entscheiden zu können, eine denkbar unterkomplexe Einschätzung. Der Wissenschaftler wird zunächst zurückfragen: Welches Teilsystem des „Menschen“ meinen Sie überhaupt?

Die Formulierung „Mensch“ ist zunächst einmal eine Formel der Zurechnung: Wir verwenden sie, um jemanden, den wir als anderes und (meistens) denkendes Individuum wahrnehmen, als solches psychisch und sozial adressieren zu können. Fragt man jedoch systemtheoretisch danach, was der Mensch ist, so bleibt, abseits von der o. g. Einordnung, nur die Antwort: Ein biologisches System, auf das wir – sowohl gegenüber anderen als auch gegenüber uns selbst – ein psychisches System zurechnen und welches zudem beständiges Zurechnungssubjekt und -objekt in sozialen Systemen ist.

Als guter Konstruktivist gilt es anzuerkennen, dass wir niemals von einer „objektiv klaren“ Existenz von etwas ausgehen können – ja nicht einmal von Systemen. Auch die Systemtheorie ist, wie andere Kategorisierungen auch, ein Mechanismus sozialer Konstruktion, um die (psychosoziale) Welt für uns begreifbarer zu machen. Insofern ist auch ein psychisches System zunächst einmal nichts objektiv gegebenes, sondern etwas, was wir uns zurechnen, um unsere eigene Identität und die anderer anerkennen und wahrnehmen zu können, da wir einen anderen Menschen eben nicht mit „Guten Tag, anderes biologisches System mit Gehirn, Augen, Ohren, Haut etc.“ begrüßen können. Die Zurechnung eines psychischen Systems erleichtert einerseits die Individualitätszuschreibung gegenüber dem anderen und ermöglicht uns darüber hinaus andererseits, uns selber etwa von pflanzlichen Lebewesen unterscheiden und unser Denken und Fühlen einordnen zu können.

Psychische Systeme werden irritiert und beeinflusst durch Kommunikation, also durch soziale Systeme. Sie kommunizieren nicht selbst! Bekanntlich kann nur Kommunikation kommunizieren, da Kommunikation immer an eine andere Kommunikation anschließen muss. Den Akt des Sprechens vollführt ein biologisches System, und ob die Differenz aus Mitteilung und Information den Gedanken des sendenden psychischen Systems entspricht, können wir selbst nicht wissen, da nicht der Sender, sondern der Empfänger über das Gelingen der Kommunikation entscheidet (= Verstehen). Das psychische System kann Kommunikation lediglich beobachten, sich von dieser irritieren lassen und dann seine eigenen Operationen dementsprechend ändern. Zwar birgt dies auch die Option, Kommunikation zu beeinflussen – aber auf großen Umwegen. Diese theoretische Prämisse gilt es zu beachten, wenn wir über die Fähigkeit des „Menschen“, sich zu verändern, sprechen wollen.

Wie kann, wenn man diese komplexe Situation zugrunde legt, überhaupt irgendeine Art sozialen, kommunikativen Zusammenlebens funktionieren? Gute Frage. Oft genug funktioniert sie nicht. Und wenn sie funktioniert, kann sie zuweilen ziemlich anstrengend werden, wie wir alle aus unzähligen sozialen Szenarien wissen, seien es politische Debatten, familiäre Konflikte oder Gespräche mit dem Ex-Partner.

Und dennoch vollführen wir diesen komplexen Akt, der drei verschiedene System-Typen umfasst, jeden Tag aufs Neue wie selbstverständlich. Basierend auf den „Instrumenten“, welche uns unser biologisches System bietet – Mund, Zunge, Mimik, Gestik, visuelle und akustische Wahrnehmung – vollführen wir tagtäglich diese Sende-, Empfangs- und (Selbst-)Irritationsleistung, die die Fortführung von Kommunikation und die Existenz sozialer Systeme ermöglicht – und unser psychisches System verändert.

Damit nähern wir uns nun langsam dem Kerngegenstand dieses Textes. Soziale Systeme verändern sich ständig – tun sie es nicht, sterben sie, da sie zur ständigen Anpassung an ihre Umwelt gezwungen sind. Biologische Systeme verändern sich von selbst (durch das bloße Altern), lassen sich aber auch künstlich verändern: Man denke etwa an medizinische Behandlungen, Konsum von Alkohol oder Reisen in andere Klimazonen, durch die wir schwitzen, frieren usw.

Die Frage, die mit dem Problemkomplex „Können sich Menschen ändern?“ wirklich gestellt wird, ist wohl zweifellos die nach der Änderbarkeit psychischer Systeme. Nun ist es eine ebenso unspektakuläre wie alte sozialwissenschaftliche Erkenntnis, dass auch psychische Systeme über ihr biologisches und vor allem soziales Leben beständiger Veränderung unterworfen sind. Im letzteren Falle wird dieser Prozess Sozialisation genannt: Er dauert bekanntlich das ganze Leben lang an, endet also entgegen dem Anschein, den der alltagssprachliche Umgang mit dem Begriff erweckt, nicht mit dem Erwachsensein. Da auch das wie gesagt allgemein bekannt ist, kann somit auch dies nicht wirklich gemeint sein, wenn die Frage aufkommt, ob „Menschen sich ändern können“. Was aber dann?

Korrekterweise muss die Frage wohl verstanden werden als „Können Menschen sich wirklich und von Grund auf ändern?“. Dies impliziert mitunter eine problematische Prämisse: Dass Menschen einen „wahren, echten Kern“ hätten – eine Seele quasi – und drum herum die äußere „Hülle“ ihrer sozialen Selbstdarstellung. Blendet man religiöse bis theologische Semantiken jedoch aus, so lässt sich hier keine sinnige Unterscheidung treffen: Etwas anderes als die soziale Selbstdarstellung einer Person ist – auch für Psychologen – nicht beobachtbar, jedenfalls solange nicht, bis ein Nachweis für die Existenz von Telepathie erbracht wird. Das heißt, auch etwa Heuchelei wird erst dann als solche erkennbar, wenn eine wahrgenommene Selbstdarstellung mit einer anderen wahrgenommenen Selbstdarstellung derselben Person kollidiert. Etwas anderes als das ist nicht wahrnehmbar und daher im konstruktivistischen Verständnis auch nicht existent.

Übrigens auch nicht für diese Person selbst: Die eigene Identität konstituiert sich durch Kommunikation, die sozialisierend wirkt. D. h.: Was für einen selbst wahrnehmbar ist, sind die Reaktionen der sozialen Umwelt auf einen und die wiederum eigene Reaktion darauf dieser gegenüber – sprich: Kommunikation – sowie die eigenen Gedanken, die aber auch nur durch diesen „psychosozialen Stimulus“ zustande kommen. Die eigene Selbstdarstellung determiniert die eigene Selbstbeschreibung, welche sich wiederum in einer Interdependenz mit der Fremdbeschreibung durch die soziale Umwelt befindet. Begleitet wird all dies freilich durch Gene / Erbanlagen und biochemische Prozesse des Körpers, die diese Sozialisationseffekte auf das psychische System mal mehr, mal weniger stark beeinflussen, etwa indem sie Prämissen setzen (Aussehen, physische oder kognitive Kapazitäten) oder anderweitig beeinflussen (man denke hier an biochemisch-hormonelle Prozesse wie z. B. die Menstruation oder Erkrankungen, die sich psychosozial auswirken).

Anders ausgedrückt: Es gibt nicht das eine, feste, essenzielle, unveränderbare „Ich“, die Seele, den Kern, der von der sozialen Selbstdarstellung umgeben wird. Abseits dessen, was genetisch und biochemisch determiniert wird – und selbst letzteres ist eben auch im Sinne der psychosozialen Auswirkungen beeinflussbar, wie nicht nur medikamentöse Psychotherapie zu zeigen vermag (ob im beabsichtigten Sinne, ist dabei eine andere Frage) – ist alles, was das psychische System ausmacht, grundsätzlich Produkt von Sozialisation und damit veränderbar.

Nun das unvermeidliche Aber: Die Phasen der Sozialisation entscheiden wesentlich über die Anstrengungen, die betrieben werden müssen, um eine Veränderung zu erreichen. Je früher sich z. B. etwas, was später als Charaktereigenschaft rezipiert wird, etabliert, desto schwerer ist es mitunter später veränderbar oder gar wegtrainierbar. In der frühkindlichen Phase wird bekanntlich die Basis für entscheidende Elemente unseres Wesens gelegt, wenn wir etwa an die wichtige Rolle denken, die das Zustandekommen und die Bewahrung des Ur-Vertrauens für unser weiteres Leben spielt. Hier findet auch jene Sozialisation statt, deren negativ wahrgenommener Anteil später am schwierigsten wieder zu eliminieren ist.

Hierfür braucht es dann – und damit kommen wir zu der Frage „Wer kann eigentlich verändern?“ – oftmals Hilfe von außen. Dies kann, in der offensichtlichsten Version, durch eine Psychotherapie geschehen, genauso aber auch durch eine bestimmte Erfahrung, einen Schicksalsschlag, (das Ende) eine(r) Liebesbeziehung (wobei selbige und das zuvor genannte durchaus auch identisch sein können; nicht nur im Falle ihres etwaigen Endes, sondern auch im Zuge ihrer Fortführung!), ein neues soziales Umfeld, eine innige Freundschaft oder auch „nur“ ein eigenständiger Prozess der ausgiebigen Selbstreflexion und gedanklichen Differenzierung. Letzterer kann dabei allerdings auch niemals komplett autark erfolgen, sondern ist letztlich ebenfalls immer das Ergebnis einer Irritation durch die soziale Umwelt, nur dann eben zeitlich verzögert und umgesetzt durch das, was wir Erinnerungen und Überlegungen nennen.

Dieser Prozess ist entgegen dem, was wir in der Begrenztheit unserer selektiven Wahrnehmung glauben, eher wahrscheinlich und alltäglich. Psychische Systeme sind ständiger Veränderung unterworfen. Zwar nicht so häufig in Hinblick auf die Ergebnisse ihrer frühkindlichen Sozialisation, durchaus aber nicht selten: Insbesondere psychische Systeme, die es – aus welchen Gründen auch immer – gewohnt sind oder von denen erwartet wird, dass sie sich und andere dauerhaft reflektieren, sind professionelle „(Selbst-)Veränderer“ und können irgendwann nicht mehr anders, als sowohl sich als auch andere ständig zu prüfen, zu hinterfragen und zumindest zu versuchen, alte und dabei für schlecht befundene Muster über Bord zu werfen. Ob es ihnen gelingt, hängt im Folgenden auch maßgeblich von der sozialen Umwelt ab: Wird das Ansinnen positiv oder negativ sanktioniert? Eine positive Reaktion der sozialen Umwelt bestärkt das psychische System in der Wahrnehmung der Sinnhaftigkeit des Versuchs und vermag dadurch eine Intensivierung und damit letztlich einen Erfolg herbeizuführen.

Dies gilt dann übrigens für beide Seiten: Wer seinerseits als positiv rezipierte Veränderungsversuche positiv sanktioniert, kann aus den Resultaten wiederum eigene, positive Selbstirritationen ableiten und „an sich arbeiten“. Eine solche Interdependenz ist es, auf der schließlich funktionierende Freundschaften wie auch Beziehungen basieren: Gegenseitige (Selbst-)Irritation, die beständige, aber freiwillige (Selbst-)Optimierung herbeiführt. Es ist jedem psychischen System nur zu wünschen, Zugang zu einer solchen sozialen Konstellation finden zu können. Und ja: Dann klappt’s auch mit der Veränderung.


Literatur

Luhmann, Niklas (1995). Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt? In: ders., Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

„Christliches“ Abendland?

Die plötzlich Verhärmte

Zwischen Distanzeritis und Dämonisierung