Das Turla-Phänomen – Wenn Paare zu einem Wesen verschmelzen

Kennen Sie sie auch? Diese ganz besonderen Paare, die sich gesucht und gefunden haben? Und danach den Versuch starten, zu einem Wesen zu verschmelzen – nicht nur körperlich beim Geschlechtsakt, sondern (zumindest in der Außendarstellung) auch in der Interaktion anderen gegenüber?

In der Comedy-Serie „Scrubs“ wurde dies mehr oder weniger surreal in Form des Wesens „Turla“ thematisiert, einer Verschmelzung des Arztes Dr. Turk und seiner Frau Carla, die sich irgendwann so nahe waren, dass sie in einer speziellen Märchen-Story der Serie plötzlich verschmolzen. Etwas weniger grotesk und etwas lebensnäher, dafür aber nicht weniger amüsant, wurde die Thematik von Loriot in dessen Kinofilm „Papa Ante Portas“ aufgegriffen. In einer Szene sitzen Loriot und Evelyn Hamann während einer Zugfahrt der Schwester der letzteren und deren Mann gegenüber und müssen sich dabei gemeinsam mit ihrem Film-Sohn und auch noch später von dem unangenehmen Paar hypermoralisiert vorgetragene Belehrungen gefallen lassen.

Das Besondere dabei: Es versucht, sich stets als ein geschlossenes soziales System zu präsentieren, dessen Zusammenhalt nichts erschüttern kann. „Mir ist eigentlich immer wohl. Nur wenn dir nicht wohl ist, ist mir auch nicht wohl.“ „Wir waren in unserer Ehe nicht einen Tag getrennt.“ – „Seit 21 Jahren! Aber wir reisen gern!“ „Wir sind heitere Menschen und freuen uns gemeinsam!“ „Wenn wir einmal irrtümlich anderer Meinung sind, haben wir uns besonders lieb!“ So lauten einige der Sätze des Paares, die von ihm – von Loriot wie immer brillant inszeniert – in selig-pastoralem Tonfall eingeworfen werden und sowohl die Hauptfiguren als auch den Zuschauer innerlich zur Weißglut treiben.

Am Ende jedoch kommt es zum Bruch: Ein Kompliment des bei einer Geburtstagsfeier anwesenden Bürgermeisters der Frau gegenüber wird von beiden unterschiedlich aufgefasst und führt – wohl zum ersten Mal in 21 Jahren – zum Konflikt. Dafür dann aber auch richtig: Mit der melodramatischen Aussage des Mannes zu seiner Frau – „Du hast unserem Miteinander die Unschuld genommen!“ – deutet sich sogleich ein tiefgreifender, womöglich nicht mehr heilbarer Konflikt zwischen beiden an.

Nun ist das überharmonische Paar zwar gewollt überzeichnet (wenn auch im Gegensatz zur Scrubs-„Turla“ in Loriot-typischer, subtil-trockener Form). Das Phänomen als solches aber ist eines, das wohl jedermann aus dem Alltag heraus bekannt sein dürfte. Zwei Menschen, die zusammen finden, und dann nur noch für den jeweils anderen – fast im wörtlichen Sinne: „für die bessere Hälfte“ – leben und dann dabei gerne mal alles und vor allem alle (!) anderen vergessen. Freunde sind nicht mehr wichtig, alle anderen Menschen verlieren schlagartig an Bedeutung und spielen allenfalls noch Nebenrollen (wie es einer meiner Professoren mal ausdrückte: „Freundschaften mutieren dann zu Weihnachtskarten-Schreibbeziehungen“).

Normal ist dies oftmals am Anfang einer jeden Beziehung, wenn die anfänglichen Schmetterlinge alles dominieren. Bei manchen aber scheint diese Phase (zumindest in der sozialen Außendarstellung) niemals abzuklingen – und dann in das oben beschriebene Verhalten zu münden. Doch warum ist das so?

Liebe hat vielfältige psychosoziale Funktionen. Es können hier längst nicht alle dargestellt oder auch nur skizziert werden, da dies – hier sage ich nichts neues – ganze Bücher füllen kann (man denke etwa an Niklas Luhmanns Meisterwerk „Liebe als Passion“, welches zu dem Thema eindrucksvolle Erklärungen liefert). Was man aber postulieren kann, ist, dass in den hier thematisierten Fällen die Liebe offensichtlich noch eine Zusatzfunktion einnimmt: Die der Komplexitäts- und vor allem der Kontingenz-Reduktion.

Der Partner wird dabei ein Instrument, um sich der sozialen Ungewissheit zu entledigen, welche uns in der (post-)modernen, funktional differenzierten Gesellschaft immer häufiger begegnet. Die Turla-Beziehung wird also zum Rettungsmodell für die Unsicheren: Der Partner vermittelt Sicherheit, in vielfältiger Hinsicht. Er ist eine haltgebende Konstante.

Eine Konstante, die einem auch schwierige soziale Aufgaben abnimmt: Man denke etwa an (siehe Loriot-Beispiel) die Meinungsfindung. So wird hier zwar nicht dauerhaft von einer Seite die Meinung vorgegeben – derlei asymmetrische Beziehungen funktionieren wohl in freien Nationalgesellschaften dauerhaft nur im Rahmen bestimmter sexueller Fetischismen. Aber: Es setzt sich automatisch derjenige der beiden durch, der zuerst den Mund aufmacht. Der jeweils andere passt sich „aus Liebe“ an. Die Turla-Beziehung ist insofern auch eine Option, sozial-kommunikative Bequemlichkeit auszuleben und Komplexität zu reduzieren.

Auf paradoxe Weise deutet sie jedoch auch auf Unsicherheit gegenüber dem Partner hin: Anpassung aus Unsicherheit ist die Regel. Der Partner darf nicht verprellt werden. Seine politische Meinung, sein Musikgeschmack, sein nächstes Reiseziel, all das muss bedingungslos akzeptiert werden, damit der Dauer-Konsens, auf dem die Selbstbeschreibung, also die Identität des übermäßig selbstreferenziellen Zweiersystems beruht, niemals auch nur in Ansätzen gefährdet wird. Dies zeigt auch, wieviel Furcht im Spiel ist: Ist die vermeintliche Liebe so schwach, dass sie Dissens in Einzelfragen nicht ertragen und aushalten kann?

Mit der massiven Integration in das scheinbar liebesbasierte Zweiersystem, ausgelöst durch die alles übertönende Selbstbeschreibung des „gemeinsamen Wir“, verstärkt sich die Abgrenzung zur sozialen Umwelt. Automatisch natürlich in der Zeitdimension und gewissermaßen „quantitativ“ – wenn man mehr Zeit mit dem Partner verbringt, bleibt weniger für anderes. Ebenso aber auch in anderer Hinsicht bzw. „qualitativ“: Die übersteigert zu kommunizierende Zuneigung für den Partner muss (!) letztlich sogar abgrenzend nach außen wirken, um sich selbst, dem Partner, und auch allen anderen beständig den Unterschied klarzumachen.

Das Turla-Zweiersystem wird damit ironischerweise immer mehr vergleichbar mit beispielsweise Terrorgruppen wie der RAF: Auch bei diesen steigt in der Regel die Abgrenzung nach außen an mit der steigenden, irgendwann sektenhaften Integration nach innen, die dann irgendwann in den Gang in den Untergrund mündet. Die sozialen Mechanismen weisen hierbei erstaunliche Ähnlichkeiten auf.

Und auch das Turla-Beziehungssystem übt auf seine soziale Umwelt durchaus eine Art von Terror aus, wie die oben beschriebenen Loriot-Szenen wunderbar deutlich machen: Psychoterror. Freunde grenzen sich irgendwann selber ab, weil man mit dem Pärchen-Pärchen auch nichts mehr zu tun haben will, dessen beiden Hälften sich fortan weigern, für sich alleine zu existieren. Damit werden freundschaftliche Vertrauensbeziehungen zu diesen, die ja immerhin etwa auf dem Mitteilen von Geheimnissen basieren, auf Dauer unmöglich, weil man sich nicht mehr auf genau diese Freundschaftsbasis verlassen kann. Das liebesbasierte Psychoterrorsystem grenzt sich also dann nicht mehr nur selber ab, sondern wird auch von seiner Umwelt isoliert und gewissermaßen in den pärchen-terroristischen Untergrund getrieben.

Dies wiederum steigert dann zunächst wieder die Systemintegration: Man muss umso mehr zusammenhalten, weil die soziale Luft um einen herum dünner und leerer wird. Das Zweiersystem wird „schön geredet“ und muss in seiner Existenz nun umso mehr legitimiert und bestätigt werden. Trifft es dann doch wieder mal auf die soziale Umwelt, verbringt es maßgebliche Zeit damit, sich dies sowohl „nach innen“ als auch dieser gegenüber, also nach außen, fortlaufend zu bestätigen: Man denke an die Zug-Szene bei Loriot. „Wir sind uns wichtig, wir kommen füreinander stets zuerst.“ Aus der eigenen Hervorhebung den anderen gegenüber, die sich anfangs für das Pärchen ehrlich freuen, danach freundlich nickend vorgeben, sich zu freuen, und irgendwann angesichts dauerhaft offensiv zur Schau getragener Liebesbekundungen (demonstrative Küsse, in Facebook-Zeiten auch gerne mal das Posten von Verlinkungen mit Herzchen und gemeinsamen Fotos) nur noch entnervt mit den Augen rollen, zieht das Zweiersystem seinen Wert.

Dass Abgrenzung nach außen das eigene Identitätsempfinden schärft, wissen wir nicht nur aus der Soziologie, sondern seit langem aus der politischen Geschichte mit Blick auf das Phänomen des Nationalismus. Und was wir in Sachen Nationalismus u. a. auf der Makro-Ebene wiederfinden und in Sachen Extremismus und Terrorismus u. a. auf der Meso-Ebene, erleben wir bei Turla-Paaren auf der Mikro-Ebene: Das Selbstwertgefühl und die soziale Konstruktion der eigenen, (scheinbar?) gemeinsamen Identität wird gesteigert durch die – zuweilen hochmütige – Abgrenzung nach außen, die sich im Falle des gesellschaftlichen Nationalismus und des gruppenbezogenen Extremismus dann zuweilen in Rassismus und bei übersteigert-liebesbasierten Zweiersystemen in hypermoralischen Belehrungen manifestiert, wie denn andere eine Beziehung zu führen oder sich ganz generell im zwischenmenschlichen Bereich zu verhalten haben (wieder: siehe Loriot-Szene!).

Die Katastrophe tritt schließlich dann ein, wenn die permanent übersteigerte Liebes-Illusion schließlich ihren unvermeidlichen Kollaps erlebt und wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. Dies kann durch vielfältige Ursachen der Fall sein: Sei es durch den üblichen, etwa nach 3 bis 4 Jahren (eigentlich) erwartbaren biologisch-hormonellen „Beziehungs-Burn-Out“ oder aber durch externe Faktoren vielfältigster Art, die sich psychosozial radikal auswirken. Entscheidend ist, dass in diesem Moment eben nicht nur etwas passiert, was fast ein jeder schon einmal erlebt hat: Das Ende einer Beziehung und damit die Exklusion aus einem sozialen System, welches aber eben i. d. R. nur ein soziales System von vielen ist, da wir aufgefangen werden durch andere Systeme, die uns entweder tröstend zur Seite stehen (Familie, Freundschaften) oder aber in die wir uns zur Ablenkung stürzen können (Arbeit, Sport, Unterhaltung, künstlerische Tätigkeiten etc.).

Im Falle des – bisherigen – Turla-Systems geschieht mehr als das, da buchstäblich die eigene Identität wegbricht, die beide Partner nahezu komplett für sich übernommen und damit buchstäblich die eigene Identität als einzelnes psychisches System vollkommen „überschrieben“ hatten. Was dann bleibt, ist ein „schwarzes Loch“, eine Leere, die gefüllt werden muss, weil der gesamte, als solcher ja zuvor absichtlich auf sich selbst reduzierte Lebenssinn in Form des eigenen Partners komplett weggefallen ist.

Und auch das Aufgefangen-Werden durch andere soziale Systeme wird dann schwerer: Zwar kann man sich noch in Arbeit stürzen, aber wenig anderes bleibt übrig. Freunde und Familie hat man im Zuge der oben beschriebenen Mechanismen womöglich so sehr vernachlässigt – und vielleicht auch gekränkt (Stichwort Abgrenzung!) – dass sie gar nicht mehr so darauf versessen sind, einem zur Seite zu stehen und einen aufzufangen. Zugleich sind Hobbies und für andere in diesen Situationen eigentlich ja ablenkend und dadurch erholsam wirkende Tätigkeiten wie Sport, Kunst, Unterhaltung etc. in derlei Fällen zu Zeiten, in denen das Turla-System noch Bestand hatte, vermutlich zu zweit, also ebenfalls in diesem System praktiziert worden, so dass das schwarze Loch und die hinterlassene Leere bei der Ausübung solcher Hobbies dann nur noch umso größer scheinen und von Ablenkung keine Rede mehr sein kann, da der Schmerz somit ebenfalls nur noch größer wird.

Erfüllt die Arbeit dann ihren Zweck auch nicht mehr und finden sich auch sonst keine Wege mehr, mit der entstandenen Leere fertig zu werden, bleibt dann in derlei Fällen oft nur noch das einzige soziale System übrig, das von der Gesellschaft für solche Fälle eingerichtet wurde: Die Psychotherapie.

Spulen wir an dieser Stelle einmal zurück und eliminieren dadurch das beschriebene Schreckensszenario. Es sollte klar geworden sein, dass die Versuchung, sich auf ein Turla-Beziehungssystem einzulassen, ein riskantes Spiel ist, das – nicht sofort, aber spätestens nach ein paar Jahren – ins Gegenteil umschlagen und im schlimmsten Fall in sozialer Isolation, Depression und Psychotherapie enden kann (eine Entwicklung, die das Turla-System wiederum mit der „Karriere“ von Extremisten und Terroristen gemeinsam hat). 

Ein Spiel also, das sich nicht lohnt. Vergessen wir unsere Freunde, unsere Familie und all unsere anderen sozialen Systeme nicht. Wir brauchen sie noch. Und sie uns auch.

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