Die Umwertung aller inneren Werte (Teil 1)

Die Welt, in der Konstanze lebte, stand Kopf. Nicht, dass das für die Welt etwas Besonderes gewesen wäre: Es war normal, dass sie Kopf stand. Allerdings: Kann man eine Welt, die auf dem Kopf steht, noch als „normal“ bezeichnen, wo sie das doch eigentlich gerade nicht ist? Wenn das Auf-dem-Kopf stehen aber nichts ungewöhnliches mehr ist, ist es dann nicht eben doch „normal“? Und steht die Welt damit nicht eigentlich doch wieder auf ihren Füßen? Paradox! Tja, irgendwie war eben alles beobachterabhängig. Obwohl. In dem Fall hätte ja gar nichts mehr einen objektiven Wert…

Stopp.

Konstanze unterbrach diesen nicht eben zielführenden Gedankengang und rief sich zur Ordnung. Noch ein Knoten im Gehirn musste nicht sein. Sie brauchte es schließlich noch. Gerade jetzt.

Bis vor ein paar Tagen war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Ihr Psychologie-Studium lief gut: Die Noten könnten teilweise besser sein, aber wer ist schon in allem gut? Sie macht noch Soziologie im Nebenfach, das war schon arg theorielastig. Und viel Stoff, den sie nie wieder brauchen würde. Aber naja, so war das halt. Weitermachen. Den Bachelor hatte sie ja schon, den Master würde sie nun auch noch schaffen.

Im Gegensatz zu vielen anderen hatte sie in ihrer Familie keinerlei größere Schwierigkeiten oder gar Streit mit irgendwem. Seit sie von zuhause ausgezogen war, bestand ein friedliches Verhältnis zu ihren Eltern. Gut, es war auch davor kein Krieg gewesen, höchstens mal die ein oder anderen üblichen Spannungen. Davon konnte nun aber schon seit längerem keine Rede mehr sein.

Ihr Freundeskreis war nicht riesig groß, aber stabil und geprägt von einigen sehr guten, vertrauensvollen Freundschaften, denen auch die geografische Entfernung nichts anhaben konnte. Sie wusste: Im Zweifel hab es Leute, auf die sie sich verlassen konnte und bei denen sie auch spontan um 4 Uhr nachts eine Übernachtungsmöglichkeit, Trost und einen heißen Tee spendiert bekäme. Es gab eine gewisse Grund-Geborgenheit.

Selbst das Beziehungsende vor etwa einem halben Jahr hatte diesem sicheren Grundgefühl nichts anhaben können. Es war sicherlich keine schöne Zeit gewesen: Niemand steckt so etwas so einfach weg, wenn man fast schon zusammen gewohnt hat. Aber selbst das hatte sie verarbeiten können. Nicht gleich, nicht sofort, aber der Schmerz war kleiner geworden und langsam verdunstet. Wie das halt so ist. Mittlerweile war es gut, wie es war. Sie war kein Mauerblümchen, sah gut aus und hatte keine Probleme, Kontakte zu knüpfen. Vor Einsamkeit fürchtete sie sich nicht. Außerdem konnte sie ja jetzt ihre Freiheit genießen, woran sie, wie sie gemerkt hatte, auch wieder immer mehr Freude gewann.

Ihr Nebenjob verursachte ihr manchmal etwas Stress. Sie arbeitete nebenher als Wissenschaftliche Hilfskraft für einen ihrer Profs. Sie mochte ihn, sonst hätte sie den Job nicht tun können. Er vertraute ihr. Das schmeichelte ihr einerseits, andererseits führte es dazu, dass er ihr viel Arbeit übertrug. Egal. Sie sah es positiv. Sie arbeitete nicht ungern für ihn und war sich auch der Chancen bewusst, die dieses Vertrauen für sie bereithielt. Sie machte weiter. Und wenn es mal stressig wurde, ließ sie es sich dafür eben mal einen Tag am Wochenende besonders gut gehen und legte die Fachbücher beiseite. Sie wusste inzwischen, wie sie ihre Ausgeglichenheit schützen konnte. Freunde beneideten sie dafür.

Kurz gesagt: Das Leben war gut. Sie war „sozial etabliert“, wie man so sagte. Sie stand nicht im Abseits. Sie fühlte sich innerlich ausgeglichen. Sie genoss ihre Freiheit. Und sie freute sich auf die Zukunft. Ihr ging es gut.

Dann, plötzlich, hatte die Veränderung eingesetzt. Konstanzes Welt stand plötzlich Kopf. Nichts war mehr so wie zuvor. Die Umwertung der inneren Werte hatte begonnen. 
 
Fortsetzung folgt.

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