Burn-Out als fehlende Komplexitätsreduktion

Das sogenannte Burn-Out-Syndrom gilt gemeinhin als ein Zustand (formal nicht als Krankheit) massiver emotionaler Erschöpfung infolge von Überbelastung in verschiedenen möglichen Lebensbereichen, nicht zuletzt im Arbeitsleben. Demnach durchschreitet ein Patient mit dieser Symptomatik verschiedene Phasen, die sich zumeist in Extremen manifestieren, wie u. a. überdurchschnittlichem Leistungswillen, Vernachlässigung sozialer Kontakte, Verdrängung, Selbstzweifel, das Gefühl, nur noch zu „funktionieren“, Depression mit möglichen körperlichen Begleitsymptomen und schließlich womöglich gar Suizidversuche.

Obgleich (oder: gerade weil?) das Burn-Out-Syndrom bislang nicht als Krankheit anerkannt ist und in Teilen als „Modediagnose“ gilt, mit der man der Feststellung einer beruflich gefährlicheren Depressions-Diagnose entgehen kann, soll an der Annahme der Existenz der spezifischen Burn-Out-Symptomatik an dieser Stelle nicht gerüttelt werden. Wer an diesem Punkt ein Wegwischen à la „alles nur gut verpackte Larmoyanz“ erwartet oder gar erhofft, wird enttäuscht werden. Aber: Ist der Auslöser wirklich nur bloße „Überbelastung“? Es ist lohnenswert, dieser Frage aus der Sicht einer systemtheoretisch inspirierten Psychiatrischen und Klinischen Soziologie nachzugehen.

Mit einer populären Interpretation dieser üblichen Annahme – Burn-Out als emotionaler Erschöpfungszustand infolge von Überbelastung – und mit dem Namen der Erkrankung als solcher geht ein gewisses Bild einher. Demnach ist da ein Mensch, der mit emotionaler Energie gefüllt ist wie ein Glas mit Wasser. Anstatt diese Energie maßvoll einzusetzen und regelmäßig aufzutanken, wie es als gesund angesehen wird, „verpulvert“ dieser Mensch sehr viel Energie auf einmal für nicht selten beruflich-karrieristische Ziele, ohne sich dabei die Zeit zu nehmen, seinen inneren, emotionalen Akku wieder aufzuladen. Dadurch ist ihm irgendwann alle Energie abhandengekommen und er ist, gleich einer zu lange eingeschalteten Glühbirne, „ausgebrannt“, „burned-out“. Die assoziierte Metapher von der ausgebrannten Birne schafft eine klare und simple Vorstellung von der Kausalkette eines Burn-Out-Syndroms. Damit einher geht dann der Umkehrschluss: Die beste Prävention ist sorgfältig und maßvoll eingesetzte emotionale Energie. Doch ist es wirklich so einfach?

Burn-Out gilt als „Modekrankheit“ bzw. – weniger wertend ausgedrückt – als moderne Zivilisationskrankheit. Das hat Gründe. Gründe, die zu erkennen eine makrosoziologische Perspektive erforderlich machen.

Mit der Transformation stratifizierter, ständebasierter Gesellschaftsformen hin zur funktional differenzierten Weltgesellschaft – welche global gesehen immer noch im Gange und noch längst nicht abgeschlossen ist, vielleicht nie zum Abschluss kommt – gehen für den modernen und für den westlich-postmodernen Menschen neue und schwierige Anforderungen einher. Anforderungen, von denen man meinen sollte, dass man sich, solange, wie Modernisierung, Urbanisierung und Industrialisierung (also Begleiterscheinungen funktionaler Differenzierung) nun schon zurückliegen, so langsam an sie gewöhnt hätte.

Doch es stellt sich nicht nur die Frage, ob der Mensch grundsätzlich imstande ist, sich an sie zu „gewöhnen“. Selbst wenn er es ist, so ist es nicht unsinnig anzunehmen, dass die Entwicklung der sozialen Mechanismen, die ihn zum Umgang mit der weltgeschichtlich gesehen immer noch neuen Gesellschaftsform befähigen, eine längere Zeit in Anspruch nimmt.

Doch was sind überhaupt diese nicht mehr ganz so neuen Anforderungen? Die Systemtheorie beschreibt sie mit dem Begriffspaar der „Komplexität“ und der „Kontingenz“.

Beide Termini beschreiben zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Kontingenz meint eine ganz grundlegende Offenheit und Ungewissheit, die mit dem sozialen Leben ebenso einhergeht wie Komplexität, die dessen Unüberschaubarkeit bezeichnet. Beides sind soziale Phänomene, die wir im Alltag reduzieren müssen, um die Welt, wie sie sich für uns darbietet, ertragen zu können. Der Ungewissheit des Lebens versuchen wir durch versuchte Beeinflussung und Planung – nicht selten finanzieller Art (Sparbücher, Versicherungen), aber auch emotionaler Natur („Liebst du mich wirklich? Sag, dass du mich liebst, los!“) – irgendwie zu begegnen, um dadurch Kontingenz zu reduzieren. Zugleich üben wir uns tagtäglich in (notwendiger, aber eben längst nicht immer effektiver) Komplexitätsreduktion: Sei es über politische Ideologien, die uns ein in sich schlüssiges, stabiles Weltbild verschaffen, sei es über religiöse Dogmen, die unserer Existenz einen Sinn verleihen sollen, oder sei es über die Arbeit, die eine Art modernes Lebenssinn-Substitut als Alternative zur Religion bieten soll.

Im Zuge funktionaler Ausdifferenzierung ist unser soziales Leben kontingenter und komplexer geworden. Unser weiterer Lebensweg ist nicht mehr in so starker Form vorgegeben durch Stand / Klasse, Familie oder religiöse Zugehörigkeit. Stattdessen werden wir konfrontiert mit einer Vielzahl an Möglichkeiten, was die Übernahme sozialer Rollen in den Subsystemen der Gesellschaft angeht. Überall müssen wir uns inkludieren: In der Familie, in Schule oder gar auch Hochschule, im wirtschaftlichen Arbeitsleben, im Gesundheitssystem, im Freundeskreis, in der (freilich selbst gewählten!) Intimbeziehung, im Rechtssystem, irgendwie auch in der Politik (und sei es als Zuschauer, von dem eine Meinung erwartet wird), in Unterhaltung und Massenmedien, die uns tagtäglich eine Vielzahl von Rezeptionsmöglichkeiten anbieten, zwischen denen wir „zappen“ können. Überall sind wir gefragt.

Zugleich wird alles unberechenbarer: Aus Lebensgefährten werden Lebensabschnittsgefährten. Plötzlich ist eine Vielzahl familiärer und sexueller Lebensstile möglich und allgemein auch akzeptiert – was, wenn der Partner plötzlich was anderes will? Seine Arbeitsstelle hat man nicht mehr sein Leben lang, verlangt wird Flexibilität. Freunde ziehen häufiger um, so dass man sich neue suchen muss. Beim Essen können wir frei wählen, aber in globalisierten Zeiten wissen wir auch kaum noch, was drin ist. Wir können mehr Medien konsumieren, aber wem kann man eigentlich noch trauen – dem scheinbar seriösen Menschen von den „Systemmedien“ oder doch lieber dem komischen, langhaarigen Blogger, der jede klare politische Position mit komischen Systemtheorien versalzt?

Und so geht es weiter. Die funktional differenzierte (Welt-)Gesellschaft lässt uns tagtäglich auf eine maßlos erhöhte Komplexität und Kontingenz stoßen, mit der wir irgendwie fertig werden, die wir irgendwie reduzieren müssen, um klarzukommen. Kontingenz- und Komplexitätsreduktion ist insofern gar nicht so negativ, wie sie oft klingt (und wie es zugegeben auch nicht selten von so manch hochmütig-naserümpfendem, ach so komplex denkendem Systemtheoretiker formuliert wird). Es ist ein alltäglicher, sozial legitimer Prozess, der Kommunikation im Kern ausmacht.

Wir können nicht immer überall zu jeder Zeit alles beachten und alles sein. Wir müssen selektieren und unsere Aufmerksamkeit konzentrieren, um wahrzunehmen. Und wir können uns nur über unsere Identität klar werden, wenn wir uns über das klar werden, was wir nicht sind. Daher sind wir nie nur „Mensch“ oder nur „Weltbürger“. Daher haben wir immer nach außen abgrenzbare Identitäten inne, wie zumeist etwa unsere Nationalität. Daher haben wir politische, territoriale und kulturelle Grenzen: Um sortieren zu können – um nicht in Komplexität und Kontingenz zu versinken. Um zurechnen zu können, was wo wer ist.

An diesem Punkt nun schließt sich wieder der Kreis zum Ausgangsthema. Denn Burn-Out ist nicht einfach nur ein Überlastungs-Syndrom. Burn-Out ist eine Folge fehlender Komplexitäts- und Kontingenzreduktion oder platter gesagt: Eine Folge von zu viel Tanzen auf zu vielen gesellschaftlichen Hochzeiten, eine Folge fehlender sozialer Fokussierung. Wer an Burn-Out leidet, der hat nicht einfach bloß „zu viel gearbeitet“, sondern hat im Zuge dieser Arbeit – oder im Zuge eines anderen sozialen Vorgangs – zu wenig fokussiert, zu wenig selektiert, zu wenig Komplexität und zu wenig Kontingenz reduziert. Nicht umsonst ist Burn-Out eine „Akademiker-Krankheit“ – ein Problem von Leuten also, die gewissermaßen beruflich gelernt haben, eben nicht zu „simplifizieren“, Komplexität eben nicht zu reduzieren.

Burn-Out ist zudem, so scheint es, ein Syndrom des postmodernen Menschen – eine Krankheit derer, für die immer alles und zu jedem Zeitpunkt möglich sein muss. Nicht nur für sie (also durchaus nicht nur aus einem egoistischen Blickwinkel heraus), sondern auch durch sie! Der Burn-Out-Erkrankte hat sich die komplexen und kontingenten Ansprüche der funktional differenzierten Gesellschaft ohne die notwendige Reduktion, ohne die nötige, leitcodierte „Filterung“ zu eigen gemacht. Wer ausgebrannt ist, hat nicht einfach seine „emotionale Energie“ verloren, sondern seinen sozialen Fokus.

Burn-Out gleicht damit – wenn auch einhergehend mit einer sehr anders gearteten Symptomatik – eher einem AD(H)S als etwa einer klassischen Depression, welche auch völlig andere Ursachen und Verlaufsformen aufweisen kann, selbst wenn sie als Unter-Symptom zum Burn-Out dazugehören mag. Burn-Out ist wahrlich eine Zivilisationskrankheit, vielmehr noch eine „Gesellschaftskrankheit“, wohl eine, die so derartig einfach makrosoziologisch zu verorten ist wie kaum eine der „klassischen“ psychischen Erkrankungen.

Damit ist sie zugleich ein eindrucksvolles Indiz dafür, wie soziale, systemische Einflüsse auf die individuelle psychische Gesundheit einzuwirken vermögen, ohne sich deswegen zugleich in einer psychoanalytisch zu erkundenden „Tiefe“ zu manifestieren.

Dieser Background sollte im Hinterkopf behalten werden, wenn etwa im Rahmen einer Therapie die Überlegung stattfinden muss, wie mit einem diagnostizierten Burn-Out-Syndrom umzugehen und wie diesem beizukommen ist. Burn-Out-Behandlung ist letztlich gleichbedeutend mit „mit funktionaler Differenzierung klarkommen“. Sowohl wer einer solchen Erkrankung vorbeugen will, als auch, wer sich davon heilen will, muss vor allem lernen, seine „sozialen Rollen zu sortieren“: Es muss also darum gehen, wieder bewusst Kontingenz- und Komplexitätsreduktion zuzulassen, Dinge aus- statt immer nur einzublenden. 

Es ist keine Sünde, die soziale Welt zu simplifizieren, sie übersichtlicher und für sich leichter zu machen. Es ist ein menschliches Grundbedürfnis. Wir täten gut daran, uns dies wieder in Erinnerung zu rufen. Vielleicht auch auf der gesellschaftlichen Makro-Ebene – das wird noch zu untersuchen und zu bewerten sein – auf jeden Fall aber auf der individuellen Mikro-Ebene.

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