Die Grille

Ich kam mal wieder mit dem Taxi heim, circa 1 Uhr nachts. Nachdem es weg ist, halte ich nochmal kurz inne. Über mir ein lautloses Flugzeug, dessen Lichter man hoch am Himmel sieht. Sonst Stille und Leere in leeren nächtlichen Straßen um mich herum. Bis auf: Eine Grille. Ihr Zirpen ist lauter als das Flugzeug. Eigentlich seltsam, nicht wahr? Ein kleines, zerbrechliches Insekt, das irgendwo nachts zirpt, ist lauter als eine gewaltige, von Menschen gefüllte Maschine, die pure Kraft und Macht verkörpert. Ein kleiner Moment, in dem Natur subtil über die Technologie triumphiert, ihr zeigt: Hier bin ich und hier bleibe ich. Zirp, zirp. Ätsch.

Zugleich ein Moment, in dem ich gerne innehalte und den ich genieße. Ein Moment der vollkommenen Ruhe – mitten in der Stadt. Das regelmäßige Zirpen wirkt beruhigend, wie das sanfte, gleichmäßige Ticken einer Uhr. Eine Art Herzschlag, der zaghaft und freundlich das Leben präsentiert, das noch so um einen herum ist. Ohne Gegröhle, Geschrei, Gehupe, Motorenlärm, Hektik oder Streit. Ein kleiner, friedlicher Hinweis, der sagen will: "Hallo. Ich bin auch noch da. Zwischen all dem Lärm und Gestank, zwischen all den visuellen Reizen. Ich war immer da, auch als ihr es nicht hörtet. Jetzt sind alle anderen still und jetzt ist MEINE Stunde gekommen. Jetzt ist meine Zeit. Die Stunde, die mir allein gehört. Hört ihr mich?"

Ich liebe diesen Moment. Wie oft wünsche ich mir diese perfekten Momente der Ruhe. Nicht: Der Stille, sondern: Der Ruhe. Komplette Stille ist oft beunruhigend – man hört zu viel von sich selbst; zu viele eigene Gedanken, die dann die Stille füllen. Aber so wird die Stille durch das Zirpen gefüllt, die einem sanft erklärt, dass Leben da ist, aber dabei niemals die Ruhe stört. Die Grille vermittelt Harmonie und Einklang, sie vermittelt geistige Ruhe. Das, wonach ich so oft suche, aber was ich so selten finde. Mach's gut, liebe Grille. Ich hoffe, der Herbst hält Dich noch eine Zeit lang lebendig und an Ort und Stelle. Auf dass Du mir und noch vielen anderen Menschen solche kurzen Momente schenkst, die wir alle viel häufiger erfahren sollten.

In diesem Sinne auch Ihnen, liebe Leser, noch einige sonnige Herbstwochen und vielleicht das eine oder andere Zirpsen.


"Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will."

Albert Schweitzer

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