#Aufstehen: Die Sammlungsbewegung als Korrektiv für die AfD

Entgegen den Spekulationen, die man immer mal wieder zu lesen bekommt, haben die Vertreter und Initiatoren von #Aufstehen, zu denen u. a. Sahra Wagenknecht, Oskar Lafontaine und die ehemalige Vize-Präsidentin des Deutschen Bundestages und prominente Grüne Antje Vollmer zählen, in der letzten Zeit deutlich gemacht, dass ihre Bewegung kein Vorläufer für eine neue Partei sein soll, sondern eine überparteiliche bzw. parteiübergreifende Sammelbewegung, die sich zur Aufgabe gemacht hat, den im Volke präsenten Unmut über kriegerische Außenpolitik, neoliberale Sozial- und Wirtschaftspolitik und die linksliberale Politik der offenen Grenzen zu kanalisieren.

Laut eigener Aussage zielt sie dabei vor allem auf entsprechend Unzufriedene in der Linkspartei, in der SPD und bei den Grünen sowie auf Politikverdrossene außerhalb der Parteien, schließt aber auch Mitglieder anderer Parteien nicht aus: Laut dem Mitmach-Formular auf der Webseite kann man auch als AfD-Mitglied mit dabei sein (eine Möglichkeit, die der Autor dieser Zeilen demnach selbst auch genutzt hat).

Charakteristika sozialer Bewegungen

Etwas, was zunächst widersprüchlich oder zumindest wie eine gewaltige politische Herausforderung anmutet – nämlich solch verschiedene politische Positionen und Milieus irgendwie zusammenzubringen, ohne dass es „knallt“ –, macht bei näherem Hinsehen durchaus Sinn, wenn man sich einmal die soziologische Unterscheidung von sozialen Bewegungen bzw. Protestbewegungen einerseits und Organisationen – zu denen natürlich auch Parteien zu zählen sind – andererseits anschaut. Organisationen stechen vor allem durch drei wesentliche Kriterien hervor: Sie haben Mitglieder, sie haben straff oder zumindest flach hierarchische Strukturen und sie haben Programme.

Im Gegensatz zu einer losen Gruppe ist die Teilhabe an einer Organisation stets über Mitgliedschaft formalisiert: Man muss irgendetwas, ein Papier, eine Erklärung, einen Vertrag o. ä., unterschrieben haben, um mitmachen zu können. Hierdurch ist klar, wo die Organisation beginnt und wo sie aufhört; sie ist klar von ihrer sozialen Umwelt abgegrenzt. Zugleich gibt es klare Strukturen: Es gibt eine Führung, die gewählt ist oder auf andere Weise eingesetzt wird. Es gibt hierarchische Unterschiede, Vorgesetzte und Untergebene, oder zumindest eine Führung bzw. offizielle Vorsitzende / Sprecher. Zugleich verfolgen sie ein fest umrissenes, schriftlich fixiertes, konstruktives Ziel, verfügen über ein Programm, das klar vorgibt, wonach sie streben und was sie erreichen wollen.

Bei sozialen Bewegungen bzw. Protestbewegungen liegt all dies in dieser Form nicht vor. Soziale Bewegungen haben keine Mitglieder: Man kann sich von einer Sekunde zur nächsten zu ihnen zählen und dann wieder nicht mehr – ohne dass einem jemand widersprechen könnte (selbst das Mitmach-Formular von #Aufstehen dient eher der Mobilisierung und der Registrierung im Newsletter als einer „formalen Aufnahme“). Es gibt keine feste Grenze der Bewegung zu ihrer sozialen Umwelt wie im Falle der Organisation – eine Bewegung ist, wenn man sich die Analogie erlauben will, eher mit einer Welle im Meer zu vergleichen, von der man nie so richtig weiß, wo sie beginnt und wo sie aufhört. Sie verschwimmt an ihren Grenzen, ist räumlich diffus, da eben ständig in „Bewegung“ (!).

Ein nützlicher Effekt dieses Charakteristikums ist, dass Bewegungen nach außen immer größer wirken als sie wohl tatsächlich sind: Wenn auf den Straßen die Massen demonstrieren oder sie im Netz „Shitstorms“ auslösen oder Hashtags in sozialen Netzwerken institutionalisieren, so erzeugen sie durch die pure Masse den Eindruck, als stünden sie für die gesamte Gesellschaft, ja seien gar identisch mit ihr – obwohl sie meistens, wie die Geschichte zeigt, eher eine Minderheit dieser widerspiegeln. Hierin liegt die große Magie sozialer Bewegungen, die Organisationen allein (die Bewegungen zwar angehören können, aber selbst keine sein können) niemals erreichen können.

Bewegungen haben keine Hierarchien. Da sie formal und auf dem Papier nicht existieren (und wenn, sind es keine Bewegungen, sondern eben Organisationen, da sie dann einen entsprechenden rechtlichen Status brauchen), gibt es auch keinen Chef. Allenfalls kristallisieren sich mal informelle Sprecher heraus; Personen, die als besonders charismatisch und redegewandt gelten und daher öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. Oder eben – wie im Falle Wagenknechts, Lafontaines, Vollmers und einiger anderer Intellektueller – „Initiatoren“, die mal über Texte oder Reden den Startschuss gegeben haben, mehr jedoch nicht zwingend. Auch dieser informelle Charakter macht Bewegungen attraktiv: Man fühlt sich durch die Teilhabe an ihnen niemandem untergeordnet, man ist kein Untergebener in starren Strukturen, sondern „Aktivist“ wie alle anderen auch, der mitreden kann wie alle anderen auch. Bewegungen sind basisdemokratisch.

Damit einher geht dann auch der dritte wesentliche Unterschied zur Organisation: Soziale Bewegungen haben kein festes Programm. Sicherlich: Sie haben Standpunkte und Inhalte. Aber diese gehen niemals derart präzise und konstruktiv ins Detail wie im Falle von Organisationen. Denn: Bewegungen sind – das ist die Folge ihrer oben beschriebenen Eigenheiten – heterogen. In ihnen finden verschiedene politische und sonstige weltanschauliche Haltungen Platz, die zwar oft vor allem durch die Ablehnung bestimmter Inhalte Gemeinsamkeiten haben, die sich aber nichtsdestotrotz in ihren letztendlichen Zielsetzungen sehr voneinander unterscheiden können.

Damit einher geht somit auch: Soziale Bewegungen sind Protestbewegungen. D. h., sie richten sich zunächst einmal gegen etwas, anstatt für eine bestimmte Programmatik zu kämpfen. Sie sind also nicht zwingend konstruktiv – was aber auch nicht schlimm ist, da es ja auch nicht illegitim ist, vor der Lösungsfindung zunächst einmal zu benennen, was man nicht möchte. Es ist eben bloß der erste Schritt, auf den dann andere, konstruktivere folgen müssen. Zugleich macht auch dieser Aspekt sie attraktiv, denn er ermöglicht es, sich bei Aktivismus nicht sofort in komplexen Detaildiskussionen zu verzetteln, sondern erst einmal gemeinsam seinem Unmut Luft zu machen, was emotional befreiend ist und zugleich Gemeinschaftlichkeit erzeugt.

Dieser psychologische Aspekt ist bei sozialen Bewegungen nicht zu unterschätzen, denn eben jene emotionale Komponente ist eine weitere Eigenschaft, die bei Organisationen eher selten zu finden ist: Soziale Bewegungen erzeugen ein „Lebensgefühl“, was beispielsweise Parteien nur relativ selten oder nur für einen gewissen Zeitraum gelingt. Soziale Bewegungen sind eben „sozial“, d. h. sie erstrecken sich auf viele Lebensbereiche: Mitunter wird eben nicht nur zusammen demonstriert, sondern auch zusammen gefeiert, Musik gehört und gemacht oder auf sonstige Weise fraternisiert, bis hin zu sexuellen Aktivitäten und zur Partnerfindung: Soziale Bewegungen sind „sexy“.

#Aufstehen und die AfD

Die Sammlungsbewegung will Druck ausüben, um einen Politikwechsel vor allem bei SPD, Grünen und Linken herbeizuführen – hin zu einer sozialeren und friedlicheren, aber zugleich auch patriotischen Politik, im Rahmen derer der Sozialstaat nur restauriert und bewahrt werden kann, wenn er nicht durch unkontrollierte Zuwanderung und offene Grenzen überlastet wird (was diejenigen „linken“ Politiker, die sich gegen die Sammlungsbewegung ausgesprochen haben, implizit genauso in Kauf nehmen oder gar befürworten wie jene NeoCons aus dem bürgerlichen Lager, die versucht haben, sie mittels hysterisch anmutender Nazi-Vergleiche vor allem in der Springer-Presse zu diskreditieren – eine besonders unrühmliche Rolle spielt hier der Bundeswehr-Historiker Michael Wolfssohn, der in der BILD mit antifa-ähnlichen Wortspielen und Assoziationen aufwartete).

Indem den besagten Parteien das große Protestpotenzial vor Augen geführt wird, das sich bei #Aufstehen gesammelt hat (und dieses ist ganz ohne Zweifel groß, wie die große Zustimmung dazu in den sozialen Netzwerken bereits jetzt zeigt), wird der Druck auf sie verstärkt, sich zu verändern. Dies gilt umso mehr, als dass erfolgreiche Beispiele wie jene von Jeremy Corbyn in Großbritannien und Bernie Sanders in den USA bereits gezeigt haben, welch ein gewaltiges Mobilisierungspotenzial hier – zu Recht – besteht. Zugleich stärken Lafontaine und Wagenknecht in ihrer Partei ihre Hausmacht, indem sie ihren innerparteilichen Gegnern um Katja Kipping und Co zeigen, wie viele potenzielle Wähler der Linken durch deren antinationalen Kurs regelmäßig wieder abhandenkommen und wie viele Unterstützer sie hätte, wenn Wagenknecht und Lafontaine sich vollends durchsetzen könnten.

Freilich: Dies wird in der Linkspartei nicht der Fall sein, denn deren globalistische Verortung ist, wenn man sich die Dominanz linkslibertärer wie auch trotzkistischer Unterorganisationen in der Partei zu Gemüte führt, auch schwerlich wieder umkehrbar. Gleichzeitig wird aber auch die Sammlungsbewegung wohl nicht zur Partei transformiert werden – verschiedene ihrer Vertreter inklusive Sahra Wagenknecht selbst haben frühzeitig und danach immer wieder klargemacht, dass sie derlei nicht vorhaben. Abseits vom Glaubwürdigkeitsverlust, der einträte, würden sie es nach all den Dementi doch tun, wäre es auch ein mehr als riskantes Spiel. In (doch sehr hypothetischen) Umfragen zum Potenzial einer solchen neuen Partei steht diese zwar gut da, aber konkret dürfte Wagenknecht das Risiko, am Ende die Partei Die Linke so gespalten zu haben, dass – wählen wir mal ein polemisches, aber dennoch nicht unbedingt unrealistisches Szenario – am Ende die übrige Linkspartei wie auch ihre etwaige neue Partei mit jeweils 4,9 % an der Hürde zum Einzug in den Bundestag scheitern, zu groß sein. Das Beispiel Frauke Petry / Marcus Pretzell dürfte dem Ehepaar Wagenknecht / Lafontaine gezeigt haben, dass neue Parteien auch dann scheitern können, wenn die Chefin intelligent, charismatisch, prominent und rhetorisch begabt ist.

Patriotisch gesinnten Menschen, die die Souveränität und die Grenzen der deutschen Nation und die Nationalstaatlichkeit als solche restauriert sehen möchten, bleibt insofern, was die Parteipolitik angeht, auch künftig nur der Weg über die AfD. Manch einer hat dabei jedoch Bauchschmerzen: So ist zwar der nationalliberale Flügel innerhalb der Partei nicht mehr als dominant zu bezeichnen; vertreten ist er jedoch immer noch in nicht geringem Maße, insbesondere durch die Spitzenpolitiker Jörg Meuthen und Alice Weidel. Demgegenüber steht der sozialpatriotische Kurs eines Björn Höcke, der eben jenen, seit langem nötigen Wandel der Partei spätestens 2019 mit einer Grundsatzentscheidung in der Sozialpolitik weiter vorantreiben will. Eine positive Entwicklung, die jedoch einige Akteure (wie etwa den nationalrevolutionären Blog Sache des Volkes) nicht davon abhält, in unschöner Regelmäßigkeit wieder das Postulat von der „neoliberalen AfD“ zu verbreiten (wohlgemerkt ist auch die Linkspartei aus dessen Sicht „neoliberal“).

Hier begegnen wir einem grundsätzlichen Problem einer jeden klaren ideologischen Verortung (welche, wie hier ausdrücklich gesagt werden soll und was auch aus diesem Blog hervorgehen sollte, durchaus zu begrüßen ist): Allzu leicht verfallen manche Akteure sodann der Neigung, politische Denkweisen buchstäblich zu Tode zu differenzieren und sich selbst so lange von allen anderen abzugrenzen, bis lediglich eine Handvoll Gesinnungsgenossen im gesamten Bundesgebiet übrig bleibt. Der messbare politische Effekt solcher dauerhaften Distanzierungsübungen ist gleich null – außer, dass derjenige, der sie ausübt, halt ganz genau weiß, wer und was er ist und wer und was nicht. Das Gewissen ist rein – aber eben auch ziemlich einsam; so einsam, dass man am Ende als Kulturpessimist in der politischen Schmollecke sitzt, von der aus man niemanden mehr zu überzeugen vermag. Ein Zustand, der für Leute, denen die Stärkung und Restaurierung der Nation am Herzen liegt, alles andere als befriedigend sein sollte. Braucht es doch für die Erreichung eben dieser Ziele Mobilisierung statt verächtlichem Naserümpfen; einen Blick auf das Verbindende anstatt auf das Trennende.

Sicherlich: In der Parteipolitik – gegenüber anderen Parteien ohnehin, innerhalb einer Partei aber ebenso – bleibt einem, gerade im Rahmen unvermeidlicher Flügelkämpfe, manchmal nichts anderes übrig, als solche Differenzierungen anzustellen. Anders sieht es jedoch aus, wenn man doch eigentlich durchaus Verbündete hat, die einem vielleicht nicht in jeder Detailfrage, aber im ganzheitlichen Blick auf Probleme, Ziele und Lösungen nahestehen. Hier gilt es dann auch einfach mal die üblichen ideologischen Bauchschmerzen runterzuschlucken und – aufzustehen. Gemeinsam.

Eine notwendige Drohkulisse

Die neue Sammlungsbewegung übt Druck aus eben nicht nur auf SPD, Grüne und Linke, sondern auch auf die AfD, indem sie ihr vor Augen führt, wie groß das sozialpatriotische Potenzial in Deutschland ist – und wie viele Menschen ihr verloren gehen, wenn sie sich auf den elitären nationalliberalen Kurs eines Meuthen oder einer Weidel einließe. Sie schafft eine – offensichtlich notwendige – Drohkulisse, indem sie zeigt, wie viele Menschen die linken Altparteien der AfD wieder „abjagen“ könnten, würden diese nur endlich (wieder) einen sozialpatriotischen Kurs verfolgen. Wie gesagt: Dies werden sie nicht tun, aus vielerlei, z. T. oben beschriebenen Gründen. Aber die Drohkulisse ist wirkmächtig und nötig. Die Sammlungsbewegung wird damit zum Korrektiv auch der AfD, welche dieses braucht, um sich endgültig von den neoliberalen Illusionen abzuwenden und zu erkennen, dass der beste Freund des Neoliberalen der Globalist ist, der Grenzen öffnet, um Löhne drücken zu können und globale kapitalistische Strukturen festigen zu können.

Auch der AfD und ihren Mitgliedern gilt somit der Aufruf: Aufstehen! Ohne Angst, ohne milieubedingte Scheuklappen. In einer sozialen Bewegung geht das. Sonst wäre sie keine.

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