Abschied vom Liberalismus
Der Spiegel-Journalist Veit
Medick ist ein geradezu idealtypischer Vertreter seines Berufsstandes im
Deutschland des Jahres 2016*. Werdegang: Politikwissenschaft und Internationale
Beziehungen studiert, Volontariat bei der taz, jetzt Redakteur bei Spiegel
Online. Doch nicht nur seine Vita ist bilderbuchmäßig, sondern auch sein
Schreibstil: In einem noch recht neuen Artikel über Donald Trumps Strategie bezeichnet er dessen Zielsetzung, amerikanische Arbeitsplätze
vor den Gefahren der Globalisierung schützen zu wollen, als „nationalistisch“.
Zum Ausdruck kommt in dieser für
sich allein genommen recht belanglosen Meinungsäußerung eines nicht wirklich
prominenten Journalisten nicht einfach nur eine Position, die – abermals wie aus
dem Bilderbuch – von der ignoranten Arroganz einer massenmedialen Elite kündet:
Heimische Arbeitsplätze vor der Globalisierung schützen zu wollen, wo diese uns
doch ausschließlich liberale Aufklärung und weltbürgerlichen Kosmopolitismus
bringt – pfui, wie kann er nur! Nationalismus. Böse. Rechts. Nazi!
Es kommt auch mehr darin zum
Ausdruck als ein direkter Hinweis zur Beantwortung der Frage, warum zahlreiche
Menschen in Deutschland und darüber hinaus sich Begrifflichkeiten wie jener der
„Lügenpresse“ oder – deutlich akkurater – der „Lückenpresse“ bedienen, gegen
die Medien wie Spiegel Online, die taz oder die SZ auch mit dem gefühlt
hundertsten Artikel über „Fake News“ nicht ankommen werden, da es eben nicht
ausreicht, den Eindruck von elitärer Arroganz und Realitätsferne hinter den
Redaktionsschreibtischen zu bekämpfen, indem man wieder nur mit dem Finger auf
andere zeigt.
Nein, zum Ausdruck kommt in
dieser journalistischen Belanglosigkeit viel mehr. Zum Ausdruck kommt eine
Allianz von nur im tagespolitischen Detail unterschiedlichen Weltanschauungen,
welche geeint sind durch ihren (neo-)liberalen Grundkonsens, der sich nur in
Form von Flügeln und programmatischen Prioritätensetzungen intern
unterscheidet. Man ist „weltoffen“, man ist „kosmopolitisch“, man befürwortet
die Globalisierung, man steht für offene Grenzen, man steht für (vor allem auch
wirtschaftliche) Freiheit, man fühlt sich dabei ungeheuer progressiv,
weltläufig, urban, international.
Die Allianz von Wirtschaftsliberalismus und Linksliberalismus
In einem Interview mit denNachdenkseiten hat Le-Bohémien-Gründer Sebastian Müller präzise
zusammengefasst, worum es bei dieser neoliberalen Allianz geht: „Die
Neoliberalen wollen vor allem den freien Verkehr von Kapital, Linke und Grüne
den von Personen. Beides hängt untrennbar miteinander zusammen und ergänzt sich
damit natürlich gut. Selbst wenn die Personen, die einmal die traditionelle
Klientel der Sozialdemokratie waren, am wenigsten davon profitieren. (...) Bis heute begreift man nicht, dass beides, soziale Rechte und Demokratie,
ohne den Nationalstaat nicht zu machen sind. Damit geht die Linke den
Neoliberalen auf den Leim, die den Nationalstaat in gewisser Weise auch
überwinden, zumindest aber auf seine Funktion für den Markt beschränken wollen."
Man könnte einen Schritt weiter
gehen und attestieren: Mindestens die Linksliberalen bei SPD und Grünen sind längst selbst „neoliberal“, und
ihre Parteien ziehen, zusammen mit der politisch komplett kontingent gewordenen
Merkel-CDU, neoliberal denkende Menschen an. Ja, sogar noch erfolgreicher als
die ursprüngliche Original-Partei des Neoliberalismus, die FDP: Sie verbinden,
noch stärker als die Freien Demokraten, ihren Wirtschaftsliberalismus mit
linksliberalem Gedankengut und damit mit einer politischen Assoziation, die in
der heutigen, moralistisch geprägten politischen Kultur anschlussfähiger ist.
Umwelt und Frieden sind auch irgendwie wichtig (von der Bundesrepublik
mitgemachte oder mitgetragene Kriegseinsätze sind lediglich „humanitäre
Interventionen“), gesellschaftspolitische Liberalität natürlich auch, und,
nicht zuletzt, die offenen Grenzen und die Willkommenskultur.
Wirtschaftsliberale und
Linksliberale stehen hier, sofern sie sich nicht ohnehin schon in ein- und
denselben Personen vereinigen, was aus den genannten Gründen immer häufiger
vorkommt, in einem symbiotischen Verhältnis miteinander: Die
„Willkommenskultur“ ist auch ein „wirtschaftlicher Standortfaktor“, der freie
Verkehr von Kapital ist in vielen Fällen, mit Sebastian Müller gesprochen, an
den freien Verkehr von Personen gekoppelt, und umgekehrt. Zuwanderung schafft
billiges Humankapital. Die Ablehnung von „konservativem“ und / oder
„sozialistischem“ Protektionismus soll Freihandel ermöglichen,
selbstverständlich vor allem in der „westlichen Wertegemeinschaft“. Forciert
werden diese Positionen nicht zuletzt von linksliberalen Sponsoren wie dem
Milliardär George Soros, der hohe Summen in entsprechende Think-Tanks weltweit
investiert. Wie Sebastian Müller im besagten Interview präzise (und ohne der
Verlockung verschwörungstheoretischer Argumente zu erliegen) beschreibt,
handelt es sich hierbei um großangelegte Netzwerke, die Politik, Wirtschaft und
Massenmedien umfassen und die unser Denken umfassend zu prägen versuchen.
Alles, was diesem Prozess, in den
sich auch Begleitentwicklungen wie etwa der amerikanische Kulturimperialismus
glatt einfügen, entgegenwirkt, muss aus dieser Sicht politisch bekämpft werden:
Der Rechtspopulismus-Vorwurf ist mittlerweile nahezu vollständig in die
politische und mediale Kommunikation übergegangen, Patriotismus ist
insbesondere in Deutschland im Grunde nur noch als Fußballpatriotismus oder als
durchrationalisierter „Verfassungspatriotismus“ denkbar. Sozialismus muss stets
zur Sozialdemokratie der Linkspartei-Reformer aus den neuen Bundesländern
abgefedert werden, um politisch anschlussfähig zu sein – und die AfD war so
lange kein „Enfant terrible“, wie sie noch unter ihrem früheren Vorsitzenden
Lucke vor allem einen offenen Rechtsliberalismus predigte.
Der Neoliberalismus hat auch eine
außenpolitische Komponente: Seine Anhänger sehen sich – aufgrund der
neoliberalen Führungsrolle der USA – stets als „Transatlantiker“ (wiederum ein
eigenes politisches und mediales Netzwerk), mitunter in einer aggressiv-kriegsbefürwortenden
Variante, die sich als Neokonservatismus bezeichnen lässt. Damit einher gehen
Konstanten wie die Zielsetzung der Demokratie-Verbreitung (zur Not auf
militärischem Wege), Blockdenken („der Westen“ gegen Autokratien wie Russland und
andere) und Geringschätzung von ordnungsbildenden Prinzipien wie dem der
nationalstaatlichen Souveränität. Wer das falsche Regierungssystem hat, der
wird, wenn nicht militärisch, dann doch zumindest subversiv – über Think-Tanks,
NGOs und Stiftungen vor Ort – „demokratisiert“. Die aggressiv-„humanitär“-interventionistischen
außenpolitischen Vorstellungen etwa der deutschen Grünen und die kriegerische
Programmatik der linksliberalen demokratischen US-Präsidentschaftskandidatin
Hillary Clinton zeigen das neoliberale Bündnis in der außenpolitischen
Dimension auf.
Die hier skizzierten
Vorstellungen von Linksliberalen und Wirtschaftsliberalen bilden den
neoliberalen Grundkonsens. Deutlich sollte damit auch werden, dass der Begriff
des „Neoliberalismus“ mehr ist als bloß ein anti-kapitalistischer Kampfbegriff,
dass er eine ausgearbeitete Bezeichnung für ein politisches Denken ist, das
sowohl, wie hier der Fall, der eigenen Abgrenzung, als auch der eigenen
Verortung dienen kann. Neoliberalismus ist mehr als ein diffuses Etwas, es ist
ein politisch reales und empirisch fassbares Phänomen.
Linke, sozialliberale und nationalliberale Lebenslügen
Die oben beschriebene politische
Diagnose offenbart ein ganzes Konglomerat an Lebenslügen im Kontext derer, die
sich doch eigentlich als dezidiert nicht
neoliberal oder als nicht linksliberal
verstehen (es sei an dieser Stelle selbstkritisch hinzugefügt, dass auch der
Autor dieser Zeilen ihnen mehrere Jahre seines Lebens erlegen ist – dennoch ist
es wichtig, sie letztlich zu erkennen).
Eine klassisch „linke“ Lebenslüge
besteht in der Vorstellung, man könne auf eine sozialere Gesellschaft
hinsteuern, ohne dabei den Nationalstaat als historisch zutiefst erfolgreiche
Institution zu bewahren. Und dieses „Bewahren“ besteht nicht einfach nur in dem
formalen Weiter-Bestehen-Lassen oder in dem Delegieren staatlicher Funktionen
an andere, supranationale Organisationen wie die EU, sondern es bedeutet den
Schutz jener Elemente, die für den Nationalstaat wesensprägend sind: Allen
voran seine Souveränität und Selbstbestimmung, seiner Grenzen, seiner
kollektiven Identität. Der (forcierte) Wegfall von Souveränität und
Selbstbestimmung, von Grenzen und Identität schafft kein soziales Miteinander –
er zerstört es, indem er soziale Konflikte herbeiführt, sowohl um Besitz und
Materielles als auch um Macht und Deutungshoheiten.
Und hierbei ist es völlig egal,
ob man diese persönlich nachvollziehen kann oder nicht, ob man, wenn es so
käme, in diesen Konflikten partizipieren würde oder nicht, ob man Partei
ergreifen würde oder ob man vermitteln würde und ob man derartige
Verteilungskämpfe und Machtkonflikte persönlich für begründet hält oder nicht –
sie würden kommen, weil andere sie für begründet halten. Allein das sollte
Grund genug sein, sich von der Lebenslüge einer globalen Grenzenlosigkeit zu
verabschieden.
Es ist bei der politischen Linken
üblich geworden, die Forderung nach einem solidarischen Internationalismus mit dem Globalismus
der Neoliberalen zu verwechseln: Der solidarische Kampf der Völker gegen Unterdrückung
und Ausbeutung – versehen mit einer Bezeichnung, die den Begriff der „Nation“
eben durchaus noch enthält! – wird verwechselt mit der Auflösung von Grenzen
und Staatlichkeit, womit man ausgerechnet auf jene hereinfällt, die schon
Anfang der 90er Jahre triumphierend das „Ende der Geschichte“ zugunsten einer
globalen, freien, bald staatenlosen Marktwirtschaft verkündet haben. Es wird
Zeit, dass die Linke diesen historischen Fehler korrigiert und erkennt, dass
das primäre Bollwerk gegen das, was sie seit jeher bekämpft hatte, der
Nationalstaat darstellt – mit allen Elementen, die nun mal zu ihm gehören (s.
o.), denn es gibt ihn nur ganz oder gar nicht. „Ein bisschen Selbstbestimmung“
ist keine Selbstbestimmung, „ein bisschen Identität“ ist keine Identität und
„ein bisschen Grenzhoheit“ (die de facto dann doch wieder von
autokratisch-islamistischen NATO-Machthabern am Bosporus abhängt) ist keine
Grenzhoheit.
In eine ähnliche Richtung, nur
auf anderen Politikfeldern verortet, geht die Lebenslüge der „Sozialliberalen“,
welche sich, motiviert durch die für sie hoffnungsvollen, aber gesamthistorisch
gesehen kurzzeitigen Entwicklungen im Westdeutschland der 70er Jahre, der
Vorstellung hingegeben haben, es könne einen fortdauernden Kompromiss zwischen
sozialen Rechten einerseits und Marktwirtschaft andererseits geben. Eine
Illusion, die spätestens mit den Reformen der linksliberalen (!), rot-grünen
Koalition unter Gerhard Schröder ihr Ende fand.
In Zeiten der Globalisierung und
weltwirtschaftlicher Interdependenzen unterliegt auch eine „Soziale
Marktwirtschaft“ stets der Erpressbarkeit sowohl der „Global Player“ als auch
der ihnen dienlichen neoliberalen Netzwerke, und die Politik der Ära Schröder
in der BRD wie auch jene der Ära Blair in Großbritannien sind lebendige
Beispiele dafür. In jüngerer Zeit zeigen die Entwicklungen innerhalb der EU
infolge der Euro-Krise die Interdependenzen abermals auf. Die sozialliberale
Grundhaltung, welche sich u. a. in dem bundesrepublikanischen Grundkonsens der
„Sozialen Marktwirtschaft“ traditionell widerspiegelt, ist insofern, konsequent
zu Ende gedacht, ein Versuch, Unvereinbares zu vereinen, ein Kunstgeschöpf, das
vielleicht guten Willen, aber letztendliche politische und weltanschauliche
Inkonsequenz bedeutet, die an sich selbst scheitern muss. Und dieses Scheitern
liegt in der liberalen Komponente des sozialliberalen Modells begründet.
Der dritte Typus der Lebenslügen
lässt sich beim Rechts- oder Nationalliberalismus identifizieren, dessen
Vertreter sich heute noch vor allem in der FDP und, angeführt vom
Co-Vorsitzenden Jörg Meuthen, in Teilen in der AfD wiederfinden lassen. Mit
dieser Lebenslüge einher geht die Illusion, man könne auf ein Mehr an
Nationalbewusstsein, an Patriotismus und an Zuwanderungsskepsis hinwirken,
während man zugleich im Inland und im eigenen Volk über neoliberale Forderungen
(längere Lebensarbeitszeit, Ablehnung von Mindestlohn, Agitieren gegen
Erbschaftsteuer etc.) soziale Verteilungskämpfe fördert und sich mit
politischen Akteuren verbrüdert, die der Globalisierung und „westlichem“
Blockdenken das Wort reden. Hier gilt die Problematik des Sozialliberalismus
quasi in spiegelbildlicher Weise: Auch das Kunstgeschöpf „Nationalliberalismus“
muss an sich selbst scheitern.
Der „politische Liberalismus“ als Abgrenzung zum Neoliberalismus?
Dieser Artikel trägt sehr bewusst
nicht den Titel „Abschied vom Neoliberalismus“, sondern den Titel „Abschied vom
Liberalismus“. Warum ein Abschied vom reinen Wirtschaftsliberalismus nicht
ausreichen kann, sollte der letzte Abschnitt deutlich gemacht haben. Warum aber
auch ein bloßer Abschied vom Neoliberalismus nicht ausreichen, sondern nur ein
Abschied vom Liberalismus als solchem
als konsequenter politischer Schritt bewertet werden kann, soll im Folgenden
dargelegt werden.
Der Begriff des „politischen
Liberalismus“ wird auch von nicht wenigen Linken oft als positiver Gegenbegriff
zur Variante des Wirtschafts- oder des Neoliberalismus verstanden,
gewissermaßen als „der nette Zwillingsbruder“ des bösen Buben, welchem wir
unsere Grundrechte, ja sogar die universalen Menschenrechte zu verdanken haben,
der uns also vor Diktaturen schützt und dem Bürger seine mündige Rolle sichert,
der das gute Individuum vor das böse Kollektiv stellt, und der aus all diesen
Gründen von den Parteien der „demokratischen Mitte“ befürwortet wird.
Eine solche Romantisierung
verkennt die beträchtlichen Problematiken, die mit dem Phänomen des sogenannten
politischen Liberalismus verknüpft sind. Denn letzten Endes ist es nicht
denkbar ohne die konsequente Fortführung hin zu wirtschafts- und letztlich
neoliberalem Gedankengut. Ein systemtheoretischer Blick auf das Phänomen vermag
für eine Erklärung dieser These hilfreich sein.
Aus dieser Sichtweise heraus ist
die makrosoziologische Übersetzung dessen, was der klassische politische
Liberalismus anstrebte, erreichte und nun bewahren will, das Prinzip der
funktional differenzierten Gesellschaft: Damit einher geht der Verlust des
Primats des Politischen, hin zu einer Gleichrangigkeit des politischen Systems
mit den anderen Funktionssystemen der Gesellschaft, wie etwa Recht,
Wissenschaft, Wirtschaft, Erziehung, Religion, Kunst, Sport, Massenmedien und
Gesundheit. Gewährleistet wird dies durch verfassungsmäßigen Grundrechte,
welche die Autonomie der Funktionssysteme vor der Intervention der Politik
schützen sollen.
In diesem Rahmen unterscheidet
sich die Autonomie des Funktionssystems Wirtschaft nicht von der beispielsweise
der Funktionssysteme Recht oder Massenmedien. Oder anders gesagt: Das Prinzip
der Marktwirtschaft ist dem sogenannten politischen Liberalismus stets ebenso
wichtig wie die Gewaltenteilung oder die Pressefreiheit. Hier gibt es für ihn
weder Abstufungen noch konzeptionelle Differenzierungen, all dies ist für ihn voneinander
untrennbar. Und damit, d. h. mit dieser Prämisse der Ablehnung jeden
politischen Primats über die Wirtschaft wie auch über Recht oder Massenmedien,
wird auch der Wirtschafts- und in der Folge der Neoliberalismus zu einem
untrennbaren, fest verschweißten Bestandteil dessen, was so beschönigend unter
„politischem Liberalismus“ läuft und verstanden wird. Es gibt das eine nicht
ohne das andere.
Dies gilt im Mindesten jedenfalls
dann, wenn der sogenannte politische Liberalismus konsequent gedacht und
angewendet wird. Doch auch, wenn dies mitunter nicht der Fall ist, so macht es
das nicht wirklich besser: In diesem Fall dann steht er nicht selten für
weltanschauliche Beliebigkeit, die sich in Form einer zuweilen fast
pathetischen Überhöhung pluralistischer Vorstellungen äußert, im Zuge derer
Ideologien und Weltanschauungen ihre wichtige Rolle für die politische
Kommunikation einbüßen und politische Akteure, wie in Deutschland vor allem
Parteien, nach innen und nach außen zu Organisationen verkommen, die jederzeit
überall alles vertreten können, ohne dass sich über Kurswechsel noch jemand
wundert. Perfektioniert hat diese Form der prinzipienlosen, opportunistischen
und für politische Karrieristen attraktiven Entideologisierung die CDU unter
Angela Merkel.
An diesem Punkt ist das moderne
Phänomen der funktionalen Differenzierung bzw. des sogenannten politischen
Liberalismus zu einem postmodernen geworden: Für alle muss jederzeit immer
alles möglich sein, ohne Bindung, ohne Verantwortung, ohne Klarheit, ohne
soziale, zeitliche und / oder räumliche Grenzen. Direktes Ergebnis dieser
postmodernen Entwicklung ist die politische Paralyse des Staatsvolkes, das zum
Opfer dessen wird, was der Soziologe Emile Durkheim als „Anomie“ beschrieben
hat, des Verlustes von gesellschaftlichen Normen und Werten, zum Opfer von
gesellschaftlicher Desintegration. Wie sich diese Langzeitfolge des
Individualismus und damit des politischen Liberalismus vollzieht, in wie vielen
Feldern des sozialen Lebens sie Schaden anrichtet, ist an anderer Stelle näher
beschrieben worden.
Allein diese kurze Analyse sollte
hinreichend gezeigt haben, dass die Abgrenzung zum Wirtschafts- und zum
Neoliberalismus nicht gelingen kann, solange der sogenannte politische
Liberalismus parallel dazu lobgepriesen wird. Das positive Image, welches er in
weiten Teilen des politischen Spektrums trotz all dieser Entwicklungen noch
immer genießt, mag immer noch eine nur schwer zu beseitigende Spätfolge des
Endes des Kalten Krieges sein, im Zuge dessen die Vertreter dieser Denkrichtung
ein Jahrzehnte währendes Siegesgefühl herausgebildet haben, das noch heute die
Argumentation vergiftet. Damit aber kann und darf man sich nicht abfinden, wenn
man sich mit den bestehenden Verhältnissen insgesamt nicht abfinden kann.
Zeitenwende
Mit dem letzten Abschnitt sollte vor
allem eine Begründung für die These geliefert werden, dass der Abschied vom
Neoliberalismus nur erfolgen kann, wenn damit auch ein Abschied vom politischen
Liberalismus und damit vom Liberalismus als
Ganzes einhergeht. Mit Halbheiten und Inkonsequenzen ist es hier nicht
getan, zumal die Vertreter des (Neo-)Liberalismus genau diese klug für sich zu
nutzen wissen würden.
Es zeichnet sich jedoch – das ist
an dieser Stelle nichts Neues – eine politische Zeitenwende ab, im Rahmen derer
die hier skizzierten Einsichten zunehmend mehr geteilt und artikuliert werden.
Die jüngsten politischen Entwicklungen in Europa (die USA lassen wir bei der
Prognose u. a. aus den oben beschriebenen Gründen lieber außen vor) lassen
darauf schließen, dass immer weniger Menschen bereit sind, die fatalen
Implikationen dessen hinzunehmen, was der Liberalismus ihnen über die Jahre
hinweg – unreflektiert, elitär, über postdemokratische Wege – beschert hat. Man
darf hoffen.
* Wie –
diese kleine Anekdote sei hier gestattet – vor dem Autor dieser Zeilen schonjemand anders in sehr ähnlicher Weise registriert und angemerkt hatte, was
ersterer erst nach Fertigstellung dieses Textes, wenngleich nicht ohne
Amüsement, bemerkt hatte.
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