PTBS als gefühlter Kontingenz-Verlust

Die Begriffe „Komplexität“ und „Kontingenz“ sind nicht nur Schlüsselbegriffe der soziologischen Systemtheorie, sondern beschreiben zugleich sowohl menschliche Grundbedürfnisse als aber auch gravierende Problematiken des sozialen Zusammenlebens von Menschen. Die komplexer werdende postmoderne Gesellschaft macht Menschen krank, die ein Bedürfnis nach mehr Berechenbarkeit im Leben haben. Auch Unterkomplexität kann Menschen belasten: Etwa dann, wenn ein tiefsinniger Mensch ein zu oberflächliches Umfeld hat und sich darin einsam fühlt.

Doch soll es hier nicht um die Frage der Komplexität gehen, sondern um den anderen Teil des Begriffspaars, welcher allerdings mit dem Begriff der Komplexität eng verbunden ist: Um Kontingenz. Kontingenz wiederum bedeutet ungefähr so viel wie „soziale Offenheit und Ungewissheit“. Wieder ein Phänomen, das mit der Postmoderne in Verbindung steht: Die freier und individualistischer gewordene Gesellschaft ist nicht nur komplexer bzw. komplizierter, sondern dadurch eben auch ungewisser und dadurch unsicherer geworden. Die zunehmende Eigenverantwortung, das Mehr an Freiheit ist für viele Menschen ein Belastungsfaktor geworden.

Doch wie auch im Falle der Komplexität haben wir es bei der Kontingenz weder mit einem von Grund auf negativen, noch mit einem von Grund auf positiven Phänomen zu tun, sondern mit einer Anforderung an das soziale Leben, welche nur im richtigen Maß eine positive Wirkung entfaltet – und sowohl im Übermaß schädlich ist als auch dann, wenn sie fehlt.

Die auch die Psyche gefährdende Wirkung von zu viel Kontingenz wurde bereits an anderer Stelle thematisiert. Eine psychische Erkrankung, die ihre gefährliche Macht maßgeblich durch ein Zuwenig an Kontingenz entfaltet, ist die sogenannte „Posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS). Eine Erkrankung, die über viele Jahre vor allem als eine „Soldatenkrankheit“ bekannt war: Soldaten, die im Krieg Erfahrungen mit brutaler Gewalt gemacht hatten, kehrten verstört von ihren Einsätzen zurück und schafften es danach nicht mehr, in ein normales Leben zurückzufinden.

In der Folge erkannte man, dass das Phänomen PTBS längst nicht nur eine Soldatenkrankheit ist, sondern nicht zuletzt auch eine Folge erlebter sexueller Gewalt sowie anderer traumatisierender Erfahrungen. Hervor stechen dabei vor allem bestimmte berufliche Risikogruppen: Neben Soldaten sind vor allem auch Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungsdienstmitarbeiter konstant gefährdet, Erfahrungen zu machen, aus denen sich eine PTBS entwickeln kann. Gleiches gilt für Journalisten, die in Krisengebieten arbeiten. Auch eine sogenannte „sekundäre Traumatisierung“ ist möglich: Hier sind vor allem auch Mitarbeiter der Justiz und Psychotherapeuten gefährdet, die sich zuweilen professionell und dauerhaft mit den oft sehr präzisen Beschreibungen traumatisierender Ereignisse auseinandersetzen müssen.

Die Symptome einer PTBS, die sich auf eine akute Form beschränken kann, die aber – unbehandelt oder auch im Falle einer besonderen Schwere des traumatisierenden Ereignisses – auch chronisch werden kann, sind vielfältig. Das prominenteste Symptom dürften wohl die häufig vorkommenden Intrusionen sein: Flüchtiges Wiederauftauchen von Erinnerungssequenzen, die das traumatisierende Ereignis schlagartig wieder präsent machen, sei es in Form schwerer Albträume oder in Form von „Flashbacks“ tagsüber, ausgelöst durch Schlüsselwahrnehmungen (sog. Trigger) wie bestimmte Gerüche, Bilder oder Geräusche, die – und sei es auch nur in geringfügiger Form – an das traumatische Ereignis erinnern. Oder sei es gar in Form dissoziativer Zustände, die den Effekt noch verschärfen.

Das, was für psychisch gesunde Menschen normal und selbstverständlich ist, nämlich dass negative Ereignisse wie etwa der Tod eines geliebten Menschen, ein Beziehungsende oder sonstige Schicksalsschläge getreu der Redewendung „Die Zeit heilt alle Wunden“ mit den Monaten und Jahren verarbeitet werden und somit keine derart schmerzende Wirkung mehr entfalten wie noch am Anfang, wird dadurch bei einer PTBS unmöglich. Das traumatisierende Ereignis ist eben dadurch chronisch traumatisierend, dass es nicht verarbeitet werden kann, weil es über Intrusionen konstant präsent bleibt und dadurch dauerhaft seine psychisch schädigende Wirkung entfaltet.

Hinzu kommen gerade im Falle einer chronischen PTBS schließlich weitere Symptome: Der psychisch labile Zustand, mit dem etwa auch höhere Reizbarkeit einhergeht, geht auf den Körper über; es können physische Stress-Symptome folgen. Oben drauf kommt das Unverständnis des sozialen Umfelds, das sich oft genug nicht in die Gedankenwelt des Erkrankten hineinversetzen kann, aber dennoch immer wieder damit konfrontiert wird, da die Symptome unbehandelt nicht weniger werden, ebenso wie es logischerweise auch Symptomen wie erhöhter Reizbarkeit negativ ausgesetzt ist.

Nicht wenige, gerade männliche Erkrankte aus dem soldatischen oder polizeilichen Berufsfeld neigen zudem dazu, die Krankheit „kleinzureden“ – was nicht körperlich ist, ist nicht greifbar. Traumatisiert sind in dieser von Männlichkeitsstolz geprägten Vorstellung nur „Memmen“, womit letztendlich übersteigerte Ansprüche an die eigene psychische Stärke einhergehen. Umso stärker fällt schließlich die Enttäuschung über sich selbst aus, wenn man diesen dann nicht nachkommen konnte. Hier setzen dann zumeist die sekundären Folgen der PTBS ein, wie z. B. Alkoholismus oder Medikamentensucht. Eine gefährliche Mischung, die dann – im schlimmsten Fall – zu psychotischen Zuständen bzw. Wahnvorstellungen führen kann.

Der Teufelskreis, der wohl bei nur wenigen Krankheiten so gefährlich ausgeprägt ist wie im Falle einer PTBS, wird an dieser Stelle deutlich. Doch wie hängt dies nun mit der Kontingenz zusammen?

Auffällig ist, dass die PTBS zwar aus dem Erleben vielfältiger grausamer Vorfälle heraus entstehen kann, dass sie aber ganz besonders in jenen Fällen vorkommt, bei denen die späteren Erkrankten einem Ereignis hilflos ausgesetzt waren. D. h. also: Einen besonders traumatisierenden Effekt hat es für Menschen, wenn sie in einer schwierigen Situation „das Zepter nicht mehr in der Hand haben“. Schlimme Erfahrungen, bei denen man sich nicht hilflos gefühlt hat, bei denen man dennoch die Wahrnehmung hatte, ein „Akteur“, also ein handelndes Subjekt und kein passives Objekt zu sein, sind seltener dauerhaft traumatisierend.

Hierin zeigt sich, wie relevant für psychische Systeme ein bestimmtes Maß an Kontingenz ist: Es bedarf der Wahrnehmung, dass die eigene Zukunft zumindest bis zu einem gewissen Punkt selbst gestaltbar ist, dass sie also ergebnisoffen und nicht komplett durch äußere Faktoren vorherbestimmt ist. Fehlt diese Grundlage psychischer Gesundheit, so setzt eine Art innere Lähmung ein, die angesichts schlimmer Ereignisse die Verarbeitungskapazität des psychischen Systems aussetzen lässt.

Wie diese Verarbeitungskapazität funktioniert, wissen wir auch aus der Sozialpsychologie. Innerhalb dieser wird gerne mit dem Begriff der „kognitiven Dissonanz“ gearbeitet, welche eine Art „innere Hin- und Her-Gerissenheit“ beschreibt, welche dann durch eine „kognitive Dissonanzreduktion“ mit der Zeit beseitigt wird. Zynisch ausgedrückt: Man denkt sich eine Situation schöner – indem man etwa bestimmte Erinnerungen und Bedenken wegen einer beliebigen Sache in eine „innere Schublade“ tut oder sie eben ganz vergisst. Manche Menschen können dies besser, manche schlechter – aber letztlich macht es jeder, sogar Menschen mit psychischen Erkrankungen.

Im Rahmen einer PTBS setzt diese Fähigkeit aus: Der festgesetzte Eindruck, nicht in einer handlungsfähigen und selbstbestimmten Position zu sein, dominiert – spätestens ab dem Moment der nächsten Intrusion – alles. Die „innere Souveränität“, derer es bedarf, um eine kognitive Dissonanzreduktion ausführen zu können, ist dadurch abhandengekommen. Ein Phänomen, das seine unheilvollen Folgen dann auch in ganz anderen Lebensbereichen zeigt: Menschen, die an PTBS leiden, können nicht nur das Geschehene nicht verarbeiten, sondern auch nicht andere negative Eindrücke, die psychisch gesunde Menschen deutlich leichter „schlucken“ können.

So kann schon eine verhältnismäßig ferne Tagesschau-Nachricht über einen Anschlag auf einem anderen Kontinent, den zwar jeder schlimm findet, der aber in der Regel um der eigenen Lebenszufriedenheit willen mit der Zeit aus der Erinnerung und der eigenen Gefühlswelt verdrängt wird, einen PTBS-Betroffenen äußerst lange beschäftigen, bis hin zu irrationalen Schuld-Empfindungen – kognitive Dissonanzen, die nicht reduziert werden können. Vergleichbar mit einer Art „psychischen Leberfehlfunktion“, durch die „mentale Giftstoffe“ nicht abgebaut werden können.

Das Fehlen der Kontingenz hat sich derart eingebrannt, dass das psychische System es für die weitere Zukunft immer weiter annimmt: Es sieht sich als Getriebener der Umstände anstatt als deren Gestalter. Das System nimmt sich selbst nicht mehr als autonom war, weswegen die inneren Operationen nicht mehr autonom vorgenommen werden, bis hin zum zeitweisen, aber währenddessen vollständigen Abkapseln von der Umwelt des Systems im Rahmen dissoziativer Zustände. Das gezielte Vergessen von Erinnerungsfragmenten, das gezielte Verdrängen dieser, das ein gesundes psychisches System ausmacht, tritt dadurch nicht ein, was wiederum die Intrusionen, die Flashbacks und Albträume stetig begünstigt, die beständig versuchen, eine Verarbeitung anzustoßen, jedoch ohne damit Erfolg zu haben. Die PTBS stößt dadurch nicht nur einen psychosozialen Teufelskreis an, wie ihn das o. g. Alkoholismus-Beispiel aufzeigt, sondern sie ist selbst ein psychischer Teufelskreis: Die fehlende Kontingenz führt zu fehlender Verarbeitung, was wiederum die Intrusionen bestärkt, was wiederum das Empfinden fehlender Kontingenz bestärkt usw. usf.

Ein Bestandteil der Traumatherapie muss deswegen sein, dem oder der Erkrankten die Wahrnehmung der Selbstbestimmung, der System-Autonomie zurückzugeben. Entgegen dem, was oftmals in Form von Halbwissen leider nicht nur bei Laien, sondern sogar auch in professionellen Kreisen grassiert, geht es bei einer Traumatherapie nicht immer auf eine auf Teufel-komm-raus erfolgende Aufarbeitung des Geschehenen. Im Falle einer wirklich schweren PTBS wäre dies womöglich sogar eher gefährlich, weil es das eigene Ohnmachtsempfinden nicht zwingend schwächt, sondern es – über die Vergegenwärtigung der Erinnerungen – auch stärken kann, was den oben beschriebenen Teufelskreis im Zweifel eher verfestigt, anstatt ihn zu lösen. Priorität hat „das Wiederfinden des Zepters in der Hand“. Unter dieser Maßgabe sollte dann im Einzelnen beurteilt werden, ob eine Aufarbeitung – also eine Thematisierung – des Geschehenen dem dienlich ist oder nicht.

Dienlich kann dies dann sein, wenn sich in Bezug auf die Erinnerungen Elemente entdecken lassen, die darauf schließen lassen, dass der Patient nicht in der Rolle des Getriebenen der Umstände verharren muss. Da genau dies jedoch auch oft genug nicht der Fall ist – der Betreffende also einfach in einer Situation war, in der die Hilflosigkeit nicht zu leugnen ist – wäre an dieser Stelle anzuraten, gemeinsam mit dem Patienten auf die Fähigkeit hinzuarbeiten, gedankliche „Schubladen“ zu schaffen, die die Erinnerungen dauerhaft vergraben anstatt sie partout aufarbeiten zu wollen – und dadurch auch Intrusionen künftig zu vermeiden. 

Fest steht jedoch, dass wohl nirgends eine ausgiebige Einzelfallbetrachtung so entscheidend ist wie in der Traumatherapie – womit diese auch für jene, die sie praktizieren, zu einer der anspruchsvollsten Therapieformen überhaupt wird, in der „klassische“ psychotherapeutische Rezepte womöglich nicht mehr greifen oder die Lage gar verschlimmern. Es ist also Vorsicht geboten. Eine Feststellung, vor deren Hintergrund es sich auch für PTBS-Patienten empfiehlt, wenn es eben geht, genau hinzuschauen und sich über die Qualifikation des Therapeuten, in dessen Hände man sich begibt, vorher ausführlich zu informieren, auch um sicher zu gehen, dass dieser seine fachlichen und therapeutischen Grenzen kennt. Eine Eigenschaft, die leider auch bei den „Profis“ bis heute nicht selbstverständlich ist.

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